Robert Menasse: Die Hauptstadt

Das Big Jubilee Project zum 50 jährigen Bestehen der Europäischen Kommission, geleitet von einer ehrgeizigen Karrieristin, ist von Beginn an zur Farce verurteilt, denn von Anfang bis Ende macht ein nicht zu fassendes Schwein die Straßen Brüssels unsicher.

Robert Menasse erzählt über politische Machtstrukturen, menschliche Leidenschaften und zwischenmenschliche Unwägbarkeiten, die das Jubilee Project torpedieren. Dabei wäre die Aufgabe ganz einfach: „Aus der Geschichte lernen heißt bekanntlich: Nie wieder!“ Der clevere Referent Susman nimmt die Idee ernst und begründet, warum Ausschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission gelten kann und warum man am besten dort eine Hauptstadt Europas errichten sollte:

„Die Opfer kamen aus allen Ländern Europas, sie trugen alle dieselbe gestreifte Kleidung, sie lebten alle im Schatten desselben Todes, und sie alle hatten, so sie überlebten, denselben Wunsch, nämlich die für alle Zukunft geltende Garantie der Anerkennung der Menschenrechte.“ (S.184) Und nichts könnte die Europäische Kommission besser begründen, als auf diesen Ursprung ihrer Einrichtung und Legitimation zurückzugreifen.

„Nie wieder – das ist Europa! Wir sind die Moral der Geschichte!“ (S.185) Man ahnt es schon.

Es gibt mehrere Handlungsstränge, die so querschießen wie das freilaufende Schwein in Brüssel. Erst auf den letzten hundert Seiten fügt sich das meiste irgendwie zusammen. Nur der vom Vatikan beauftragte Priester und Scharfschütze hat wohl sein Ziel verfehlt. Aber als Anspielung auf die Rolle der katholischen Kirche während und nach dem Nationalsozialismus gut zu gebrauchen.

In der Seniorenresidenz beschließt David de Vriend, einer der letzten Ausschwitz- Überlebenden und der letzte noch lebende Jude aus dem einzigen Deportationszug, der von Widerstandskämpfern überfallen und angehalten worden war, eine Liste anzulegen mit den Namen all derer, die überlebt hatten. Sein Unglück war nicht das Alter, „sein Unglück war das Leben“. (S.155)

Ein Professor hält bei einem großen Think Tank seine letzte Rede, ein Kommissar bearbeitet seinen letzten Fall und niemand – außer David de Vriend – hat anscheinend ein Interesse daran, die letzten Überlebenden der Shoa ausfindig zu machen. Der Kommission gelingt es jedenfalls nicht, denn sie ist zu sehr mit der Aufpolierung ihres Images beschäftigt. Und was an den oberen Stellen, der Kommission wie der einzelnen Länder, die größte Sorge bereitet, ist der Zusammenhang zwischen der Anerkennung des größten Verbrechens gegen die Menschheit als eines nationalen Verbrechens und dem international daraus abgeleiteten Anspruch, den Nationalismus zu überwinden und dass daraus letztendlich eine „Überwindung der Nationen“ abzuleiten sei.

Zwei ranghohe Beamte der Europäischen Kommission im Gespräch:

„ >>Nie wieder Ausschwitz<< ist gut und richtig.
Ja.
Das könnt ihr jeden Sonntag in einer Rede sagen.
Genau. Aber das ist kein politisches Programm.
Moral war noch nie ein politisches Programm.
Vor allem wenn die Moral Konflikte produziert.“ (S.330)

Und tatsächlich, das Schwein rennt immer noch durch Brüssel, der Vatikan hat den bestfunktionierenden Geheimdienst, denn in jeder kleinen Gemeinde gibt es einen Priester, die Gedanken, die eine nachnationale Demokratie begründen und rechtfertigen könnten, verschwinden ebenso wie der letzte Zeitzeuge, ohne dass sie von der Kommission bemerkt worden wären.

Damit kommt die „Parallelaktion“ aus Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ein bisschen kurz – was eigentlich schade ist, weil das die wirklich zukunftsweisenden Gedanken wären. Aber es liegt eben in niemandes Interesse, wirklich an der Abschaffung des Nationalismus und damit der Nationen zu arbeiten. Im Ergebnis löst sich alles in Luft auf, sogar das Schwein, als wäre es nie dagewesen.

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
Buchpreisträger 2017

3 Kommentare zu „Robert Menasse: Die Hauptstadt

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