Eine feine Geschichte, in der die Ereignisse verwoben werden mit Erinnerungsschichten und sich überlagernden Bildern. Die wichtigen, die entscheidenden Lebensmomente geschehen wie beiläufig und stellen sich im Nachhinein als die großen Momente mit prägender Kraft heraus. So wie das Leben eben ist. Die Erzählung von Judith Hermann ist manchmal sparsam in der Wortwahl, in der Ausschmückung. Keine zu großen Worte. Aber gerade deshalb berührt diese Geschichte. Es ist eine Geschichte über das Weggehen, das Ankommen, das Dableiben – vielleicht. Und es passt so gut zu dieser Geschichte, dass die umschließende Klammer die Begegnung mit einem Zauberer in jungen Jahren ist und mit dem Zaubertrick der zersägten Frau. Diese Kiste hat mehrere Formen in dieser Geschichte, sie taucht immer wieder auf, auch als Marderfalle, aus der die Protagonistin am Ende den Gefangenen wieder in die Freiheit entlässt.
Gerade weil kein Wort zu viel, keine Inszenierung zu groß wird im Erzählen, lässt es den Raum, dass ein eigener Zauber in dem/der LeserIn entstehen kann. Die Ereignisse, die die Wendepunkte markieren, kennt man.
Mimi weiß nicht, dass ich seit einiger Zeit Angst vor dem Schwimmen im tiefen Wasser habe, ich habe nie zuvor Angst vor tiefem Wasser gehabt, und ich vermute, es könnte etwas mit Ann zu tun haben, mit ihrem Auszug, mit ihrem Abschied von Otis und mir.
S.99
Ein erwachsen gewordenes Kind zieht aus und lässt die Eltern zurück, in einem neuen Raum, der sich zu zweit nicht mehr füllen lässt. Die Frau zieht aus, in eine andere Gegend, in eine herbe Landschaft im Norden an der Küste. Sie stellt ihr Leben in neue Zusammenhänge und weiss noch nicht, ob diese Zusammenhänge sie tragen können.
Im Hörbuch wird die ganze Eigenart von Judith Hermanns Erzählen noch viel deutlicher. Die Wiederholungen bei den Satzanfängen, die oft einfachen Beschreibungen und vor allem: sie hebt die Stimme am Ende des Satzes, als wäre jeder Satz eine Frage. Das passt zur Erzählung. Aber das ist Geschmacksache. Als würde sie ihren eigenen Sätzen nicht glauben. Für mich war das Buch viel zauberhafter als das Hörbuch.
S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2021
Hörbuch, ungekürzte Lesung mit Judith Hermann
Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar
Sehr schöne Rezension. Ich kann mir das Buch schwerlich als Hörbuch vorstellen. Ich mochte diese Ruhe, die mich beim Lesen begleitet hat, diese Weitschweifigkeit des Raumes, in welchem die Tochter sich an irgendeinem Ort auf dem Planeten befindet, während eine neue Nachbarin einzieht, der Planet als Erdball erscheint, auf dem wir uns alle tummeln. Ich mochte diese Detailfreude und das Zurückhaltende. Es ist ein Buch, das ich auch gerne wieder lesen werde. Eine lyrische Entschleunigung.
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Ja das Zurückhaltende, das Leise und Langsame entfaltet hier einen Sog ins kontemplative Empfinden ohne alles mit Worten benennen zu müssen. Das hat mir gut gefallen – im Text – abe ich würde eh immer den Text dem Hörbuch vorziehen. Vielen Dank fürs Feedback!
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