Franzobel: Das Floß der Medusa

„Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr.“

Postmodernes Spiel mit der Literatur und ihrer Geschichte lockert die historisch verbürgte Gebundenheit der Havarie der Medusa und des fürchterlichen Schicksals der 150 auf einem selbstgebauten Floß zurückgelassenen Menschen erzähltechnisch auf. Dieser Blick erlaubt uns, einen schützenden Raum zwischen uns und das Geschehen einzubauen, gleichzeitig finden wir uns konfrontiert mit den Fragen und Zweifeln, die das Gelesene im eigenen Kopf auslöst.

Was bedeutet Zivilisation? Es wird der Finger genau in die Wunde gelegt, die niemals heilen kann: Was ist der Preis für die sogenannten zivilisatorischen Errungenschaften? Mit welcher Arroganz wir uns in der westlichen Welt als die „zivilisierte Welt“ bezeichnet haben, wohl wissend, dass die ganzen Ideale der französischen Revolution als Chimären für politische Zwecke missbraucht wurden. In der Untergangshistorie hat sich allemal erwiesen, dass sich die Menschen auf der ganzen Welt nicht darin unterscheiden, wie in Extremsituationen alle Gesetze, die geschriebenen und die ungeschriebenen, ihre Gültigkeit verlieren. Fressen und Gefressen werden. Mit einem schauerlich ehrlichen Blick entführt uns Franzobel in die Abgründe des Menschseins. Auf dem Floß der Medusa lernt selbst der Gelehrteste, dass ihn ab einem gewissen Punkt nichts mehr von den weniger Gebildeten unterscheidet.

Der Roman erinnert an Patrick Süßkinds „Das Parfum“. Ein allwissender Erzähler darf auftreten, um uns einen distanzierenden Blick anzubieten auf das menschenverursachte Grauen.

Das historische Ereignis: 1816, die Medusa ist das größte Schiff von vier Fregatten, die den französischen Hafen Rochefort Richtung Senegal verlassen. Staatsmänner, Soldaten, Königstreue, ehemalige Revolutionäre, Söldner, Kaufleute, Familien, Ausreißer – Franzobel lässt in der fiktionalen Ausgestaltung des Schiffsunglücks einen Querschnitt durch die Gesellschaft dieser Zeit auftreten, allen voran ein Hochstapler als Kapitän, der nur durch feige Selbstverleugnung und Anbiederung an die Macht an eine Position gekommen ist, in der er über das Schicksal anderer Menschen entscheiden darf – und dieses Schicksal skrupellos aufs Spiel setzt.

Die Brüchigkeit unserer größten Errungenschaft, angeblich eingeläutet mit der französischen Revolution, die Würde des Menschen, sie war immer und wurde immer angetastet, durch Systeme, durch Institutionen, durch andere Menschen. In Franzobels Geschichte beginnt diese Verletzung aber schon lange vor der Extremsituation auf dem Floß. Die Grausamkeiten, derer sich einzelne auf dem Schiff in ihrem Reich schuldig machen, der Koch Smutje und der Kombüsenjunge, selbst verletzte Charaktere, sind ungeheuerlich, geradezu unmenschlich. Und diese zwei Figuren verändern sich in ihrer Haltung kein bisschen, sie ziehen das durch bis zum bitteren Ende, wohlgenährt am warmen Herd genauso wie verdurstend der sengenden Sonne auf dem Meer ausgesetzt. Andere Figuren wie Savigny, der nüchterne Wissenschaftler, sind sehr facettenreich. Noch in der geborgenen Situation des segelnden Schiffes, seinen pragmatischen Überzeugungen treu, zeichnet er er sich aus durch Intelligenz, Ironie und Wegschauen. Auch das hat Folgen. Seine eigene Menschenverachtung wird ihm aber erst bewusst, als es um die Frage geht, wie viele geopfert werden müssen, damit einige überleben können.

Monströs, wuchtig, grotesk, bis an die Schmerzgrenze gehend und die Spannung bis zum Schluss haltend, so ist dieser historische Roman als ein Kunstwerk zu lesen, das die Brüche in der Gesellschaft um 1816, nach der Niederlage Napoleons zur Sprache bringt, die unerfüllten Hoffnungen nach der französischen Revolution, die Ernüchterung, wie die Machtergreifung durch die Massen von Grausamkeit gezeichnet ist, als große Frage nach der Gültigkeit der vielbeschworenen Gesetze und Normen der „zivilisierten Welt“. Historisch und zeitlos, ein großartiges Buch.

 

Eines meiner Lesehighlights des vergangenen Jahres.

Shortlist für den deutschen Buchpreis.

Rezension mit umfangreicher Inhaltsangabe bei Jochen Kienbaum: Lust auf Lesen

Bildnachweis: JEAN LOUIS THÉODORE GÉRICAULT – La Balsa de la Medusa (Museo del Louvre, 1818-19).jpg, Hochgeladen: 23. November 2011, Wikimedia Commons

Franzobel: Das Floß der Medusa, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2017

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