Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Ein plakativer Titel, eine ungewöhnliche Form, ein revolutionäres Leben, das alles ergibt eine epische Erzählung über eine Revolutionärin, die mit humanistischem Anspruch immer an eine Entwicklung zum Besseren glaubt und dafür ihr eigenes, persönliches Glück hinten an stellt.
Die klassischen Helden-Epen von Homer, die Illias, die Odyssee, stehen beispielhaft für ein Epos. Endlich gibt es eine Heldin, für die ein Epos geschrieben wurde. Wobei das heute nicht mehr in der klassischen Versform funktionieren kann. Eine Mischform aus dem antiken Verständnis eines Epos als Versschöpfung und dem modernen Verständnis von Epos als Erzählung ergibt eine verschränkte Textform mit vielen zäsierenden Zeilenumbrüchen, aber ohne Versmaß und Reim. Es liest sich flüssig, aber Betonungen können anders gesetzt werden durch diese Form, das ist wohl der Sinn des Ganzen.

„Annette ist Pazifistin, bis sie mit fünfzehn lieber Terroristin werden will.“

S.20

Anne Beaumanoir, 1923 in der Bretagne geboren, Neurologin, ausgezeichnet mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“, war im zweiten Weltkrieg als Beschützerin verfolgter Juden schon in jungen Jahren sicher, wofür sie eintreten will. Ein unterstützendes Elternhaus, Menschen, die ohne zu fragen und unter Einsatz ihres Lebens halfen.

„… es wird gerettet. An diesem Tag
retten Roland und Annette ein Kind. Ein
anderes, das ihre, das noch unbewusst im Leib
der Mutter schwimmt, geben sie am selben Tag
verloren. Denn jegliches hat wirklich seine Zeit,
das Kinderkriegen und das Widerstehen,
und beides gleichzeitig ist nicht zu haben.“

S.46

Später wird sie Kommunistin, hat mit Charles de Gaulles zu tun, der erst anders tut und mit André Malreaux, der später anders tut als vorher und dann beginnt sie sich für die Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens zu interessieren. Sie engagiert sich im FLN, wird verraten, muss flüchten … kurz: es ist ein Leben, das kaum besser als in einem Heldinnen-Epos geschildert werden könnte. Und Anne Weber erinnert die LeserInnen an einige wichtige Resistance Bewegungen Frankreichs im 20. Jahrhundert. Und immer wieder Camus.

„L’homme révolté oder Der Mensch in der Revolte von
Camus, und schlagen wir es auf: >>Egal wie gut der
Zweck auch ist, für den man eintritt, es wird ein
schändlicher durch blindes Gemetzel einer
unschuldigen Menge, bei dem der Mörder schon im
voraus weiß, dass er auch Frauen trifft und Kinder.“

S. 126

Eine packende Geschichte, eine politische Zeitreise und ein Epos, das von Mut und Widerstand in einer trefflichen Form erzählt.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
Mathe & Seitz, Berlin, 2020
Preisträgerin des Deutschen Buchpreises 2020

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