Michel Houellebecq: Serotonin

Der Klappentext verspricht eine Abrechnung mit der modernen Gesellschaft, der Wirtschaft, der Politik – und mit sich selbst. Durch Zweidrittel des Romans habe ich gewartet auf diese Abrechnung, bis mir klar wurde, dass die Perspektive des um sich selbst kreisenden Individuums zur Abrechnung gar nicht fähig ist, es nimmt die Außenphänomene allenfalls zur Bestätigung seiner selbstzerstörerischen Stimmung auf.
Nun ist Serotonin ein Hormon und Neurotransmitter, der über das Zentralnervensystem erheblich auf die Stimmung wirkt, auf verschiedene Funktionen in mehreren Körpersystem und unter anderem die Blutgerinnung. Wo Serotonin fehlt, verstopft das System. In seiner schlechtesten Phase, nach einer Beziehung mit einer Nymphomanin, verkriecht sich der Protagonist in einem Ferienhaus bei einem alten Schulfreund, dessen Landwirtschaftsbetrieb vor dem Aus steht. Die Milchquote.

„… die Europäische Union hatte sich mit dieser Milchquoten-Geschichte auch wie eine alte Schlampe verhalten …“

Und damit wären wir beim eigentlichen Thema: allenthalben wird der Verlust von „political correctness“ beklagt, eine Verrohung der Sprache; und wir diskutieren über sexistisches und rassistisches Framing – wie könnte ich als Leserin nicht empört sein ob des gewaltsamen, misogynen Sprachgebrauchs eines international gefeierten Autors?
Ist ihm mit „Unterwerfung“ noch der Schwenk in die politisch kritische Analyse der Zeit gelungen, ist es hier in Serotonin einfach nur eine zynische Erzählhaltung, der ich dieses mal nicht viel abgewinnen konnte.

Die Gelbwesten-Bewegung liefert ihm ein gesellschaftskritisches Thema, mag sein. Von den Franzosen wird Houellebecq sogar für hellseherische Fähigkeiten gefeiert, wenn er, wie mit „Unterwerfung“ den religiösen Fanatismus karikiert und das Buch am Tag des Anschlags auf Charlie Hebdo erscheint. Vielleicht ist „Serotonin“, was das angeht, wirklich ein Roman der Stunde, mit seiner Kritik an einer Globalisierung und internationalen Handelspolitik, die Menschen in die Verzweiflung treibt. Aber selbst hier ist die französischen Einöde und die grausame Verzweiflung über die Hilflosigkeit den internationalen Märkten gegenüber auch ein Schauplatz für die Verharmlosung von Pädophilie.

Für seine pornographischen Auslassungen ist Houellebecq bekannt. Dieses mal hat er etwas provoziert, das nicht mehr mit „Literatur“ oder „Kunst“ zu entschärfen ist. Sinngemäß gibt er hier eine Definition der Frau, reduziert auf drei Körperöffnungen, zu denen man ständig Zugang und die freie Wahl hat. „Und wie soll man sie zugleich überhaupt als Frauen betrachten, jene Frauen, die das nicht von sich sagen können?“ Unwahrscheinlich, dass er hier eine Kritik an solcher Anschauungsweise verbirgt. Kurz nach Lektüre des Buches erschien die Debatte um Gewalt an Frauen durch Sprache im amerikanischen Parlament. Alexandria Ocasio-Cortez bringt es auf den Punkt, warum sexistische Verbalattacken ein Angriff sind, der nicht hinzunehmen ist:

Definitiv mein letzter Houellebecq.

Michel Houellebecq: Serotonin
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner
DuMont Buchverlag, Köln, 2019

6 Kommentare zu „Michel Houellebecq: Serotonin

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  1. Die Rede von Frau Ocasio-Cortez passt perfekt – sie ist großartig. Und ja, ich frage mich schon lange, weshalb man Houllebecque (noch) lesen sollte – ich verstehe einfach nicht, was er mit seiner Literatur erzielen will … meines war sie noch nie. Danke für die fundierte Besprechung. LG, Bri

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