Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte

In neuem Zusammenhang einen alten Schatz entdeckt: „Und Nietzsche weinte“. Auch bei wiederholter Lektüre erneut ein sehr starkes Buch, eines, das so recht ordentlich an die Substanz geht.
Die fiktive Begegnung Otto Breuers – eines Arztes im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der vor allem durch seine mit Freud zusammen verfassten „Schriften zur Hysterie“ Berühmtheit erlangte – mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche ist ein grandioser Wurf. Nietzsche der Philosoph mit dem Hammer, der alles, was als autoritäre Vorstellung von Moral, Konvention, Verhältnismäßigkeit angesehen werden kann, kategorisch ablehnte, und sich auf einen verzweifelten Weg machte mit seinem „Zarathustra“, um selbst die eigenen Regeln aus freier Kraft zu modellieren, dieser Nietzsche ist im Jahr 1882, in dem der Roman spielt, bereits am Ende seiner Kräfte. Die Begegnung mit einer starken Frau, mit Lou Andreas Salomé, hat ihn in seinem Selbstbild so tief erschüttert, dass er seine Geister nicht mehr los wird. Migräneattacken, die ihn bis zu zwei Wochen lähmen, vielerlei körperliche Beschwerden, die ihn zwingen, ein unstetes Leben zu führen, von Ort zu Ort zu reisen, um die besten klimatischen Bedingungen für seine Zustände zu suchen – das gibt Stoff für einen Analytiker. Und Yalom ist – nebenbei – für so eine Geschichte auch ein begnadeter Autor.
Die Wege und Umwege, die Tricks, die Breuer anwenden muss, um diesen starrköpfigen Nietzsche, der seine Leiden überhaupt nicht behandelt haben möchte, zu einer Kur zu bringen, bedürfen neben der Erfahrung eines guten Arztes einer psychologischen Einfühlung und einer Methode, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Breuer entwickelte bei seiner Patientin Bertha Pappenheim eine „Redekur“, bei der sie das „chimney sweeping“ anwandte, eine Art assoziatives Reden ohne Zensur. Bekannt wurde die Beschreibung als „der Fall Anna O.“ Einiges in den Gesprächen, die Breuer mit seinem Schüler und Freund Sigmund Freud führt, sind sicherlich überzeichnet von der Erfahrung eines gegenwärtigen Psychotherapeuten. Es ist eben eine fiktive Geschichte darüber, wie diese Wurzeln der Psychoanalyse mit tatsächlichen Fallbeispielen zusammenhängen und wie sie eben auch einer Zeit anhängig sind, in der Hysterie als eine Erscheinungsform unterdrückter Triebregungen bei Frauen anscheinend ein von gesellschaftlichen Konventionen abhängige Krankheitsform war.

Die „Redekur“ jedenfalls ist das Kernstück des Romans. Wobei die Hauptprotagonisten Nietzsche und Breuer selbst manchmal nicht genau wissen, wer mit wem diese Kur durchführt und manchmal ist im Nachhinein alles ganz anders als gedacht. Und dass selbst der erfahrene Arzt zu überraschenden Wendungen in seinem Leben kommt, als er sich eingesteht, dass er die Zügel längst nicht mehr in der Hand hält, ist eine der Stärken des Romans. Freud spielt eine Nebenrolle, aber keine unwichtige. Eine kleine Spitze hat Yaloms Erzählung auch parat gegen Freuds „Trieblehre“. Otto Breuer erinnert sich, „wie unerfahren und prüde sein junger Freund in Dingen der Liebe und Geschlechtsliebe war.“ (S.395) Freud ist empört über Schnitzers Freizügigkeit und er ist verwirrt und peinlich berührt, als ihm Breuer von seiner Vermutung erzählt „die große Mehrzahl der schweren Neurosen entstamme dem Ehebett!“ (Ebd.) Denkbar dass Freuds Trieblehre seinem eigenen neurotischen Verhältnis dem Triebleben gegenüber entsprungen ist.

Breuer will Nietzsche helfen. Er will ihn retten, denn er hat einen Auftrag von Lou Salomé: „Die Zukunft der deutschen Philosophie steht auf dem Spiele.“ (S.7) Eine intellektuelle Herausforderung und eine willkommene Ablenkung. Nietzsche will Otto Breuer helfen. Er will ihn befreien von seinen Geistern, die ihn nicht mehr ruhen lassen, namentlich von Bertha Pappenheim. Nietzsche betrachtet sich als Philosophen der Zukunft, vielleicht des 20., vielleicht des 21. Jahrhunderts. Breuer verführt ihn. Er soll doch einmal, nur ein einziges Mal, seine Philosophie an einem Menschen aufs Praktische herunterbrechen. Sie werden sich gegenseitig zu Ärzten gegen die Verzweiflung. Breuer an Nietzsche mir der Redekur und Nietzsche an Breuer mit seinem mächtigen „Gedanken der ewigen Wiederkehr“ und mit „amor fati“ – liebe dein Schicksal.

Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte. Piper Verlag, München 1994. Titel der amerikanischen Originalausgabe: „When Nietzsche wept“, Basic Books, New York, 1992

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