Adichie schreibt in dieser Familiengeschichte einen Roman über Entkolonialisierung, afrikanische Politik und die Verstrickungen aus der Kolonialzeit. Erschütternd nah am Krieg und dem, was er mit Menschen macht, ist es doch aber auch eine Milieustudie der gehobenen Mittelschicht Nigerias.
Die Hälfte der Sonne strahlte für kurze Zeit auf der Flagge Biafras, einem für nur drei Jahre existierenden Staat in der Region Nigerias. Die über Jahre andauernden Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sind, wie in allen Krisengebieten Afrikas, den willkürlichen Grenzziehungen der ehemaligen Kolonialherren geschuldet. Im Osten Nigerias lebten hauptsächlich die Angehörigen der überwiegend dem christlichen Glauben angehörigen Igbo, der Großteil Nigerias war überwiegend von muslimisch gläubigen Nigerianern besiedelt. Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien gab es zunächst einen Putsch der Igbo, bei dem folgenden Gegenputsch forderte ein Pogrom an den Igbo mehrere Zehntausende Todesopfer.
Adichie erzählt die Geschichte Biafras anhand einer Familiengeschichte, die sich um zwei Zwillingsschwestern, Olanna und Kainene und ihre sich verändernden Lebensverhältnisse gruppiert. Die Schwestern stammen aus wohlhabenden Verhältnissen, in denen durchaus politisch opportunistisch gehandelt und gedacht wird. Gegen den Widerstand der Familie heiratet Olanna den linksliberalen Universitätsprofessor Odenigbo. In seinem Haushalt erlebt ein Hausboy aus der armen ländlichen Region eine wohlwollende Förderung seiner intellektuellen Fähigkeiten. Teilweise wird aus seiner Sicht erzählt, wie die kriegerischen Auseinandersetzungen die Menschen verrohen. Das Aufeinanderprallen von Tradition, Fortschritt, politischen Zukunftsvisionen und Hunger wird in seiner Person in der Konflikthaftigkeit gezeichnet.
„Die wirkliche Tragödie unserer postkolonialen Welt ist nicht, dass die Mehrheit der Leute keinen Einfluss darauf hatten, ob sie diese neue Welt wollten oder nicht, sondern dass man dieser Mehrheit nicht die Mittel gegeben hat, mit der neuen Welt umzugehen.“ (S.156)
Trotzdem ist der Roman in erster Linie ein Spiegel der intellektuellen Mittelschicht. Ihre Gespräche liefern wenig Stoff zu den nach der Kolonialzeit politisch tätigen Visionären Afrikas, wie z.B. Patrice Lumumba und deren systematische Vernichtung. Doch es wird in diesem frühen Roman von Adichie eines ihrer zentralen Themen angespielt: Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen und der zugrundeliegenden Weltanschauung.
„>>Was die Leute einfach nicht begreifen, ist: Hätte Europa sich mehr um Afrika gekümmert, wäre der Holocaust an den Juden nie passiert<<, sagte Odenigbo. >>Letztlich hätte es gar keinen Krieg gegeben!<< (…) >>Begreifst du denn nicht?<<, fragte Odenigbo. >>Sie haben ihre Rassenforschung bei den Herero angefangen und bei den Juden abgeschlossen. Natürlich besteht da ein Zusammenhang!<< (S.81)
Vom britischen Lebensgefährten Kainenes, Richard, erfährt der Leser in kurzen Einschüben einige Fakten über die politische Geschichte Biafras. Er schreibt ein Buch mit dem Titel: >Die Welt schwieg, als wir starben.< Und Richard schreibt im Auftrag der Regierung Biafras Artikel für europäische Zeitungen, in denen der/die LeserIn über eines der großen Probleme der postkolonialen Zeit ins Bild gesetzt wird:
Wenn Hass dahintersteckt, dann ist es ein sehr junger Hass. Verursacht wurde er schlicht und ergreifend durch sie informelle Teile-und-herrsche-Politik der britischen Kolonialmacht. Diese Politik hat sich die Unterschiede zwischen den Stämmen zunutze gemacht, hat dafür gesorgt, dass eine Einheit nicht zustande kommen konnte, um damit ein so großes Land regierbar zu machen.“ (S.248)
Das Biafra-Kind mit seinem Hungerbauch haben wir in Erinnerung. Das „Kwashiorkor“ Hungerödem ist eine Folge der Protein-Energie-Mangelernährung (PEM).
„Der Krieg ist zu Ende, aber der Hunger nicht, nkem.“ (S.629)
Ein umfangreicher Roman, im ersten Teil mit einigen Längen, die der zweite Teil wettmacht. Die Introspektive Olannas nach dem Massaker an ihrer Familie ist erschütternd. Es ist ein Anti-Kriegs-Roman mit der Botschaft, dass Kolonialismus mit der Dekolonialisation nicht aufgehört hat und die Welt bis heute unter den Folgen zu leiden hat.
Chimamanda Ngozi Adichie: Die Hälfte der Sonne
Aus dem Englischen von Judith Schwaab
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2016
Originalausgabe 2006 unter dem Titel >Half of a Yellow Sun<, Foult Estate, London