Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen

Auf Sizilien sind manchmal die Ausläufer des heißen Wüstenwindes, des Ghibli, zu spüren. Ein junger Mann, Vito steht am Strand, weiß nicht wohin mit sich und seiner Zukunft, kann sich nicht verankern in der Vergangenheitsgeschichte seiner Familie, die mehrfach über das Meer zwischen Libyen und Italien emigriert ist oder zwangsumgesiedelt wurde. Gleichzeitig macht sich ein kleiner Junge, Farid, mit seiner Mutter auf den Weg, weg aus einem Libyen das in den letzten Tagen Gaddafis, der 42 Jahre sein Regime etabliert hatte, seine Einwohner als Waffen gegen Europa aufs Meer schickt.

Großmutter Santa war als Kind mit der zweiten Auswanderungswelle 1938 von Süditalien her gekommen um in Libyen Land fruchtbar zu machen. Sie erlebte die große Veränderung mit, die Revolution des Volkes, wie man es nannte, als Gaddafi das Land, in dem mittlerweile das Öl sprudelte, befreite und unter seine Führung brachte. Libyen, bis dahin die vierte Küste Italiens. Auf dem Meer ereignen sich die Geschichten dieser Familien. Der junge Vito taucht in die Geschichte, zurück bis 1911, bis zu den großen Kolonialisierungskämpfen, zu den Massakern, die verübt wurden, zweifellos auf beiden Seiten, aber mit welchem Recht der Eindringlinge? „Libyen ist das gelobte Land, Italien von der Vorsehung zugesprochen.“, schreibt die italienische Zeitung La Stampa 1911. Italien flog damals die ersten Bombenangriffe. Von den 300.000 Menschen die 1911 noch in der Kyrenaika lebten, dem östlichen Teil des späteren Libyens, hatten bis 1915 gerade noch 120.000 überlebt.

Aber nicht davon erzählt dieser Roman. Er erzählt in seinen Figuren von einer Geschichte, die sich in ihrem Leben einschreibt. Er erzählt von den Vorfahren, von Farids Vater und Großvater und Urgroßvater, viele in der Namenstradition des legendären Omar al-Mukthar, des Löwen der Wüste. Geschichte ist: Omar al-Mukthar war ein Widerstandkämpfer, ein Freiheitsheld, der sich ab 1923 mit einer Partisanengruppe gegen die italienischen Truppen stellte. Der Roman erzählt von der Lebensveränderung der Nomaden. Die Colonia Libia wird 1934 zur italienischen Agrarkolonie. Und 1938 wurden 30.000 neue Siedler nach Libyen gebracht in dem festen Glauben, rechtmäßig die Einheimischen unter die italienische Herrschaft zu zwingen. Von der Propaganda nach Libyen geschickt. 1945 verlor Italien sämtliche Rechte an seinen früheren Kolonien. Noch gut zwanzig Jahre stand Libyen unter britischer Militärverwaltung. Aber davon erzählt der Roman nicht. Er erzählt von der Sehnsucht nach Heimat, vom Verlust von Heimat, von der Frage, was Heimat bedeutet, wenn man die Geschichte kennt.

Und das ist das Besondere an diesem Roman: über die Erfindung zweier Charaktere, einer in Sizilien, einer in Libyen, werden Bruchstücke einer Geschichte aufgerollt. Über individuelle Schicksale wird Geschichte transportiert. Unaufdringlich. Aber so, dass man fragt. Wie war das, die Italiener in Libyen? Wie war das mit der Kolonialisation Nordafrikas? Wann war die Entkolonialisierung? Mit welchen Folgen? „Gaddafi hat sich zurückgeholt, was ihm gehörte. Italien trug die Schuld.“ (S.73) Die italienischen Siedler wurden zurückgeschickt. Das war in den Siebzigern.

„Der Ort, an dem man geboren ist, birgt etwas in sich. Das weiß nicht jeder. Nur wer gewaltsam weggerissen wurde, weiß das.“ (S.69)

Und nun, 2011, Gaddafi richtet seinen Kampf gegen seine eigenen Landsleute. Europa mischt sich ein. „Jetzt will der Rais, dass sich das Mittelmeer mit armen Schluckern füllt, damit Europa das Fürchten lernt. Das ist seine beste Waffe. Das verfaulte Fleisch der Armen. Das ist Dynamit.“ (S.27)

Was ist der Nullpunkt in der Geschichte eines jungen Mannes, von dem aus er seine Zukunft aufbaut? Für Vito gibt es einen „Ground Zero“, seinen Nullpunkt mit Brandgeruch. Das ist der Besuch der Stadt Tripolis mit Mutter und Großmutter, eine Biopsie der Vergangenheit.

Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen
Aus dem Italienischen von Katrin Krieger
DuMont Buchverlag, Köln, 2012

3 Kommentare zu „Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen

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  1. Was für eine Geschichte. Das Mittelmeer hat viel zu erzählen. Von Homers Odyssee über Aischylos‘ Schutzsuchende bis in unsere Tage. Mögen sich die Libyer und Italiener respektive die Europäer so verständigen, dass niemand ertrinken muss auf dem Meer, keine*r gefangen bleibt und gemeinsame Ziele gefunden werden. Gute Wünsche und viele Grüße

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    1. Am meisten hat mich an dieser Geschichte erschreckt, wie wenig diese über hundert Jahre andauernde Migrationsbewegung über das Meer, hin und zurück, in unserem Bewusstsein ist. Gerade was Itlaien angeht, hatte ich bisher nur sehr periphere Kenntnisse. An diesem Thema bleib ich auch noch dran.
      Liebe Grüße
      Dagmar

      Gefällt 1 Person

  2. Liebe Dagmar,
    danke. Heute wurde wurde im Kolleg*innenkreis über Italien, Äthiopien und Eritrea empfohlen:
    Francesca Melandri: „Alle, außer mir“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen,
    Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2018
    Schöne Grüße zum Advent
    Bernd

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