Ein Dejá-vu. Nicht so komplex, nicht so vielschichtig wie viele andere Juli-Zeh-Romane, dafür sehr emotional, sehr intim und direkt ins Herz greifend. Henning und Theresa verbringen ihren Winterurlaub mit den beiden Kindern auf Lanzarote. Seit zwei Jahren leidet Henning unter Panik-Attacken, und kann nicht erklären, was der Grund dafür ist. Ein diffuses Übeforderungsgefühl lässt ihn vermuten, dass er seiner Lebenssituation im Gesamten nicht mehr gewachsen ist. Er genügt seinem eigenen Anspruch nicht. Obwohl die Eheleute in einem ausgeklügelten Konzept aus Rollen- und Aufgabenverteilung ganz gut „funktionieren“, wie Theresa immer sagt, gerät er mehr und mehr aus dem Gleichgewicht und hat den Eindruck, bei Theresa ein „Schuldenkonto“ aufzuhäufen wegen Nichterfüllung seiner Aufgaben.
„Für Henning ist das Leben zu einer Aneinanderreihung von inneren Zuständen geworden, schlechten, sehr schlechten und halbwegs guten. Schönes Wetter und berufliche Erfolge betreffen ihn nicht mehr. Alles Kulisse.“ (S.38)
Generalisierte Angststörung. Auch Theresa wird zunehmend hilflos im Umgang damit.
In einem Gewaltakt, bei dem er wieder einmal alles von sich abverlangt. stemmt Henning sich an Neujahr die Serpentinen zu einem Bergdorf hinauf. Er wird magisch angezogen von einem Anwesen oberhalb des Dorfes. „Das wirklich Erschreckende ist aber, das er kennt, was er sieht.“ (S.75) Das Dejá-vu beginnt.
„Am nächsten Morgen sind Mama und Papa weg.“ (S.112)
Henning hat Schuldgefühle. Wenn er braver gewesen wäre, wenn er Luna weniger geärgert hätte, wenn er nicht auf die Ritzen zwischen den Platten getreten wäre, … Er ist fünf Jahre alt, seine kleine Schwerster Luna ist gerade mal zwei. Die heldenhafte Odyssee aus den Augen eines Fünfjährigen wird erzählt, der versucht, seine kleine Schwester zu versorgen und zu beschützen und dabei über die Affekte eines fünfjährigen Kindes stolpert, das auch mal Wut hat, sich die kleine Schwester wegwünscht und vor allem ganz viel Angst hat. Und natürlich geht es auch um Schuld, oder vielmehr um das Sich-schuldig-Fühlen. Dieser Teil des Romans gehört nach Ursula März, die in der ZEIT am 18.08.2018 den Artikel „Die Unzerbrechliche“ nach einem Interview mit Juli Zeh auf Lanzarote geschrieben hat, „zum Besten, was Juli Zeh je veröffentlicht hat, …“
Nur ein einziges Mal wird die Mutter beim Namen genannt, als in der Erinnerung jemand sie anspricht. Sonst bleibt sie „die Mutter“, die mit den Kindern und dem Leben als Alleinerziehende überfordert war. Sei hatte gewusst, dass die Erinnerung eines Tages wieder kommen würde. Und doch hatte sie auf Vergessen gehofft. Auch jetzt ist sie nicht in der Lage, irgendeinen Trost zu geben, oder das, was geschehen ist, irgendwie erträglicher zurechtzurücken. Sie ist mit sich selbst beschäftigt.
Henning weiß es nun, wie er sich und seine Schwester retten kann. Ihr Leben war bis zu diesem Zeitpunkt geprägt von den Folgen eines Traumas. Und wieder ist er mutig. Er hat dem Trauma ins Gesicht geschaut.
Juli Zeh: Neujahr
Luchterhand Literaturverlag, München 2018
Hallo Dagmar,
danke für die empfehlende Besprechung.
Aktuell wurde Juli Zeh zur Richterin am Landesverfassungsgericht von Brandenburg gewählt. So ist ihr sehr zu wünschen, dass sie ihre Kompetenz in kluge und weise Entscheidungen einbringen kann und ebenfalls, dass sie neben juristischen Texten weiterhin Romane schreibt.
Gute Wünsche, viele Grüße
Bernd
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Eine unglaubliche Frau! Gerade in Kombination mit ihrem juristischen Wissen und dem Blick auf die Gefahren für die Demokratie ist sie mir schon vor vielen Jahren aufgefallen mit dem Buch „Corpus Delicti“, einer Dystopie, in der Menschen über ihre Gesundheit kontrolliert werden. Mit Ilja Trojanow hat sie etwa zeitgleich eine Kampfschrift gegen unserern Sicherheitswahn verfasst. 2008 hatte sie beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen den biometrischen Reisepass eingelegt. An einem Verfassungsgericht ist sie genau richtig! Und ich hoffe auch – aber das trau ich ihr auch zu – dass wir trotzdem noch etwas von ihr zu lesen bekommen!
Liebe Grüße
Dagmar
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Liebe Dagmar,
danke. In diesem Sinne gute Wünsche für sie und Dich
Schöne Grüße
Bernd
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