Manch’ intelligenente LiteraturkritikerIn würde Arthur Schnitzler als zu einem obsoleten Literaturkanon angehörigen Repräsentanten bezeichnen und aus der als lesenswert zu würdigenden Literatur ausschließen. Es braucht schon ein gewisses literaturhistorisches Interesse, sich mit diesen bildungsbürgerlich orientierten Inhalten auseinanderzusetzen. Bei der Lektüre wird er dann aber doch zu einem zeitlosen Roman, der nicht umsonst seinen Platz im Kanon verteidigt.
Fräulein Else ist eigentlich eine simple Geschichte: ein junges, 19 jähriges Mädchen aus einer Wiener Advokatenfamilie verbringt einige Wochen in der Schweiz in einem Kurhotel, auf Einladung ihrer Tante. Ihr Vater hat – wieder einmal – Gelder an der Börse verspekuliert, dieses mal sind es ihm anvertraute Mündelgelder. Er weiß sich nicht anders zu helfen, als sein leibliches Mündel, seine Tochter – nicht direkt, sondern über Briefe, welche die Mutter schreibt – um Hilfe zu bitten, weil er sonst derart ruiniert sei, dass man womöglich um sein Leben fürchten müsse. Sie solle im Hotel einen reichen Kunsthändler um Geld für den Vater bitten.
Ob nun, wie die Sekundärliteratur anbietet, Schnitzler hier in Kenntnis der Fallstudien Freuds eine adoleszente Hysterikerin skizziert, oder ob eine inzestuöse Abhängigkeitsbeziehung im Verborgenen beschrieben wird, sei dahingestellt. Interessant ist die Struktur: ist es durchgängig ein innerer Monolog, in dem Fräulein Else uns Einblick erlaubt in ihre Träume, in ihre Selbstzweifel, in ihre Vorwürfe, in ihr Gewissen und – vor allem anderen – in ihre Albträume? Oder ist es im ersten Teil ein innerer Monolog und dann eine Traumerzählung?
Fräulein Else hat das Veronal auf ihrem Zimmer, das Mittel, mit dessen Hilfe sie schlafen kann und das Mittel, mit dessen Hilfe sie sich der anzüglichen Forderung des Gönners, sich vor seinen Augen für das geforderte Geld zu entblößen, entziehen kann. Schnitzler konstruiert den letzten Teil so, dass der Leser nicht weiß, ob die burleske Szene zu Robert Schumanns Musik Carnaval sich zuträgt, oder ob Else bereits unter dem Einfluss der Droge fantasiert. Ebenso bleibt offen, ob mit dem Schlucken des restlichen Veronals eine Selbsttötungsabsicht verbunden ist. Die Menge ist dafür jedenfalls zu gering. Also ist es möglicherweise doch ein Schrei um Hilfe, ein Schrei nach Liebe.
Wie man es auch drehen und wenden mag: es bleibt eine Missbrauchsgeschichte, aber nicht wie im oben angedeuteten Zusammenhang, sondern im Sinne eines gesellschaftlich nicht geahndeten Missbrauchs der eigenen Tochter zu finanziellen Zwecken. Die Käuflichkeit von Jugend und Schönheit, die gesellschaftlichen Missstände, die das bürgerliche Mädchen in diesen Gewissenskonflikt treiben, dass sie abwägt zwischen dem eigenen Tod und dem Tod des Vaters, zwischen ihrer Schande und ihrer Würde, das ist das zentrale Thema, der die Geschichte geschlossen folgt. Und eine Art des Missbrauchs öffnet die Tür für den nächsten.
„Ja, Else, man ist eben nur ein Mann, und es ist nicht meine Schuld, dass sie so schön sind, Else!“ Es ist ein uraltes Tauschgeschäft: Schönheit und Sex gegen Geld. Else hat es wohl verstanden, sie ist ökonomisch abhängig vom Wohlwollen der Männer, alle Alternativentwürfe sind fruchtlos. Gegen dieses gefühlte Ausgeliefertsein lehnt sie sich auf. Verzweifelt sucht sie nach diesem Quäntchen Selbstbestimmung, das ihre Selbstachtung retten könnte.
1924 wurde „Fräulein Else“ veröffentlicht. Es ist ein literarisches Stück Zeitgeschichte. Die Kritik an den gesellschaftlichen Zwängen, vor allem an der fatalen Situation der Frauen, selbst aus gut situiertem Hause, die außerhalb der gängigen Rollenklischees kaum Möglichkeiten der autonomen Lebensgestaltung hatten, ist genauso evident wie die Kritik an einem in Konventionen erstarrten Sprachgehäuse. Die Bildungssprache des Bildungsbürgertums dominierte auch die Schriftsprache und war Ausdruck einer schichtspezifischen Konvention. Der gesittete Umgang in diesen Kreisen wurde gleichwohl unterlaufen von unsittlichem Verhalten, doch darüber schwieg man vornehm. Insofern ist Schnitzler nicht in erster Linie als Frontmann Freuds zu lesen, sondern als Sprachkritiker. In diesem Stück „Fräulein Else“ gelingt es ihm vorzüglich, die Barrieren der bürgerlichen Sprachkonvention niederzureißen. Als LeserIn wird man in diesen inneren Monolog, der in Bruchstücken und Fetzen Gedankenbrocken zu Tage fördert, regelrecht hineingezogen. Auch jenseits eines literaturhistorischen Interesses immer noch ein Lesegenuss.
Dtv, Bibiothek der Erstausgaben, München, 2013