Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin

Das große Verdienst dieser Biographie liegt in der Absicht der Autorin, eine unverstellte Biographie zu schreiben. In der Einleitung stellt sie dar, wie wir in der Geschichte der RAF einer Mythenbildung aufgesessen sind, die durch Reproduktion von plakativen Behauptungen in einigen wenigen Werken mit hohen Auflagen aufeinander aufbauend die immer gleichen Bilder evoziert. Gleichzeitig gibt sie zu bedenken, wie schwer es ist, hier noch einmal archäologische Grundlagenforschung zu betreiben, wie unmöglich, hier vorurteilsfrei in die Auseinandersetzung zu gehen und doch, im Bewusstsein dieser Problematik, unternimmt sie eine sehr detaillierte Untersuchung, eine Reise in die Katakomben der Vor-RAF-Geschichte bei gleichzeitiger Zerlegung der Vor-Verurteilung durch Nach-RAF-Rezeption.

Die Zeit, in der Gudrun Ensslin aufwächst – nein, es wird hier nicht wieder die Geschichte in bezug auf das Pastorentochter-Sein aufgerollt – ist eine Zeit des perfektionistischen Anspruchs. Gudrun wird als aufgeschlossen erlebt, intelligent, sozial engagiert und sie will Lehrerin werden.

„Jener Beruf ermöglichte es mir, meine beiden großen Wünsche zu vereinigen. Einmal ist es der Wunsch, mit dem und am lebendigen Menschen zu arbeiten, zum anderen, reines Wissen zu erwerben, selbst zu lernen und dann das Erworbene anderen weiterzugeben, zu lehren.“ (Ebd. zitiert auf S.64/65) Sie trägt sich ein für Germanistik und Anglistik, besucht aber auch viele philosophische Vorlesungen, unter anderem bei Ernst Bloch über Das Prinzip Hoffnung. Ingeborg Gleichauf erzählt über die turbulente Beziehungsgeschichte mit Bernward Vesper, der die Gedichte seines nationalsozialistisch gefärbten Vaters in Eigenfinanzierung mit Gudrun Ensslin herausgeben will – Thema einer anderen Geschichte – die Gründung eines eigenen Verlags Studio Neue Literatur mit einem ersten Sammelband: Gegend den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe. Immer ist Gudrun Ensslin engagiert, sie ist fleißig und sie liebt die intellektuelle Auseinandersetzung mit Texten, absolviert nach dem Graecum ein Philosophicum, macht das Staatsexamen und schreibt dann jahrelang an einer Dissertation über Hans Henny Jahnn.

Und dann kommen viele Passagen, die dem Inhalt nach bekannt sind aus der Anfangszeit in Berlin, die politische Stimmung der sechziger Jahre wird gestreift, man kennt das Wahlkontor deutscher Schriftsteller, das sich für eine Kandidatur Willy Brandts ausspricht. Was aber dieses Buch auszeichnet, ist die Vorsicht, die Behutsamkeit, mit der Ingeborg Gleichauf versucht, sich der Person Gudrun Ensslin anzunähern. Manchmal vielleicht zu vorsichtig, zu korrekt, so dass die Person in ihrer Zerrissenheit nicht viel Fleisch auf die Knochen bekommt.

Für die Zeit in der Haftanstalt Stammheim liefert sie eine Menge an Textauszügen. Gleichauf stellt keine Behauptungen auf, auch nicht darüber, wann und wo welche Art der Radikalisierung stattgefunden hat, wann der Widerstand umgeschlagen ist in Terrorismus. Was dem Leser aber deutlich wird, ist die zunehmende Entfernung von der Realität innerhalb der Gefängnismauern, unter diesen Haftbedingungen der Isolation. Eine Menge Fragen liegen mir auf der Zunge. Aber ich tue es an dieser Stelle der Autorin gleich: „Der Selbstverunsicherung standhalten heißt fragend bleiben, bis zum Schluss, bis zum letzten Satz.“ (S.321) Gudrun Ensslin in Pieter Baker Schut: das info, S.18:

„der kriminelle, der wahnsinnige, der selbstmörder – sie verkörpern diesen widerspruch, sie verrecken in ihm. ihr verrecken verdeutlicht die ausweglosigkeit/ ohnmacht des menschen im system: entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere, entweder tot oder egoist.“ (Ebd., S.322)

 

Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin
Klett-Cotta, Stuttgart, 2017

Nachtrag: Habe noch mal eine alte Biografie von Mario Krebs rausgezogen: Ulrike Meinhof. Ein Leben im Widerspruch. Er hat 1982 – 88 recherchiert, auch mit dem Anspruch, sich nicht von den plakativen Reproduktionen verblenden zu lassen. Um der Figur näher zu kommen, versucht er, die politischen Verhältnisse dem Leser durch ihre Augen zu präsentieren. Das wird dann zu einer Biografie aus personalisiertem Blickwinkel, bei der man der Person begegnet. Diese Harangehensweise hat ihm allerdings vom Herausgeber den Nachtrag eingehandelt, dass dieser sich distanzieren zu muss.

Wenn eine umfassende Biografie “neutral“ geschrieben werden soll, bleibt die Figur ein Schemen, der nicht zu fassen ist. Und das ist in Gleichaufs „Ensslin“ Biographie das Ergebnis. Aber wie wäre es anders möglich, ohne Position zu beziehen?

2 Kommentare zu „Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin

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  1. Danke für die Besprechung. Ich meine mich zu erinnern, gelesen zu haben, dass kürzlich Dokumente der Studienstiftung publiziert wurden. Konnte die Autorin auf diese Quellen bereits zugreifen oder eingehen?

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    1. Ja, Arnold, in den Quellenverzeichnissen ist eine Danksagung an die Studienstiftung des deutschen Volkes Bonn für Einsicht in die Ensslin Akte. Es gibt wohl dazu auch ein Buch vom Herausgeber Alexander Gallus unter dem Titel: „Meinhof, Mahler, Ensslin: Die Akten der Studienstiftung des deutschen Volkes“, Vandenhoeck & Ruprecht, 2016.

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