Es war nur ein kleiner Sprung nötig. Mit dem Skistock prüfte ich die Festigkeit des Schnees auf der anderen Seite der kleinen Spalte. Sieht gut aus. Heute Vormittag haben wir schon mehrere kleine Spalten überquert. Gesichert mit sieben bis acht Metern Seil zwischen uns waren wir nacheinander, immer vorsichtig, als wollten wir leise sein, um die Spalte nicht aufzuwecken, mit einem großen Schritt hinübergesetzt. Es war unsere erste Besteigung in dieser Gegend im Monte Rosa und wir kannten die Gipfel nicht. Der Lyskamm sollte es sein. Wir waren ja schließlich trainiert. Ein beeindruckender Berg, der uns beim gesamten Aufstieg von der Gniffetti Hütte seine weiße Wand entgegenhielt. Auf halber Höhe wandelte sich der Weg. Das breite Tal zwischen Ludwigshöhe, Parospitze und Lyskamm, das wir mit unseren Steigeisen aufgestiegen waren, endete auf einer schmalen Anhöhe und wir standen nun am Scheideweg. Die Gipfelbesteigung des Lyskamm konnte nur über den Grat erfolgen. Ich weiß, warum ich mich von ihnen getrennt habe, hier in dieser Schneewüste: die schlechte Sicht, der in Böen aufsteigende und abfallende Wind. Und mein Streit mit Wolf am Abend vorher. Ein ziehendes Gefühl in der Magengegend ist geblieben. Hier oben bin ich immer besonders empfindlich, als wäre meine Seele wund. Wolf muss irgendetwas gesagt haben, das mich bis ins Innerste getroffen hat. Ich weiß aber nicht mehr, was es war, will es nicht mehr wissen. Die Gedanken hier oben sind anders. Oder die Gefühle dazu. Nein, ich mache ihnen keinen Vorwurf, dass sie mich alleine zurückgehen ließen. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ziehe ich das durch, auch wenn es wider alle Vernunft ist. Das war schon immer so und so wird es auch bleiben, da kann mich niemand umstimmen.
Der Zorn kommt wieder hoch und die Tränen. Bevor ich nichts mehr sehe, springe ich.
About this photo: Title: Crevasse at Fox Glacier, Creator: Tristan Schmurr License
Original source via Flickr
Und ich weiß es, bevor ich aufkomme. Ich habe mich getäuscht. Oder auch nicht. Vielleicht habe ich es absichtlich herausgefordert. Vielleicht gebe ich auf. Ich habe keine Kraft mehr, jeden Tag mit diesem Leben zu kämpfen. Es ist mir egal.
Die oberste Schneeschicht ist weich. Ich sinke ein klein wenig ein und dann bricht etwas weg unter meinen Füßen. Es geht sehr schnell. Es reißt mich kurz nach hinten, ich versuche noch im Fallen die hintere Kante zu fassen, von der ich abgesprungen bin. Ich bin zu langsam. Im Fallen denke ich: es ist ok, du hast es so gewollt. Alt werden, um sterben zu können, wolltest du nie. Hätte zu diesem Leben auch nicht gepasst. Ich lande auf einer Eisscholle, ein herausstehendes Stück Eisplatte, nur etwa sieben Meter unterhalb der Oberfläche. Ich schaue nicht hinab. Es geht viel weiter hinunter, Glück gehabt. Das Erste was ich wahrnehme ist dieses seltsame, bläuliche Licht hier unten. Es hat beinahe etwas Mystisches. Knapp dem Tod entronnen. Habe ich wirklich Glück gehabt?
Jeden Tag von Neuem beginnen, obwohl alles im Alten endet. Immer wieder die Illusion, es anders machen zu können. Die Anstrengung bleibt immer die gleiche. Bis es irgendwann nicht mehr geht. Dann reißt der Faden der Geschichte ab. Das Leben ist kein Ablauf mehr, es besteht nur noch aus Fragmenten, Bruchstücken, zwischen denen die Brüche sind, an denen es zerbrochen ist, das Leben.
Doch vorher war da die Angst. Die Angst vor der Angst, die du nie loswirst. Die Angst, dieses mühsam zusammengehaltene Leben könnte zerbröckeln. Die Angst vor dem Abgrund ist bereits der Schlund, in dem alles versinkt.
puh! – das ist heftig. Ich frage mich, ob sie aus dieser schier ausweglosen Situation gerettet wird? Und ich hoffe, dass es nur eine Art Albtraum ist und keine Realität.
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