Jenny Erpenbeck: GEHEN, GING, GEGANGEN

Albrecht Knaus Verlag, München, 2015

„We become visible“, dieser Leitsatz Asylsuchender, die auf dem Alexanderplatz in Berlin demonstrieren, kann als ein Leitmotiv des Romans bezeichnet werden: die in aller Unterschiedlichkeit erzählten Schicksale einiger Schwarzafrikaner stehen stellvertretend für das unaussprechliche Leid der Vielen, die vergeblich monate- oder sogar jahrelang in einer Warteschleife aus Untätigkeit und Angst verharren. Jenny Erpenbeck hat sie sichtbar gemacht.

130_0370_163592_xxl

Durch die Augen eines emeritierten Altphilologen erscheint dem Leser die Welt der Hilfesuchenden als eine absurde Aneinanderreihung von unerklärbaren Hürden. Sie gehören zu den Glücklichen, die die Flucht über das Meer überlebt haben, und zu den Unglücklichen, die nun an Dublin II und deutschen Paragraphen scheitern. Wo einmal im alten römischen Reich, zu lesen bei Tacitus in der „Germania“ die Gastfreundschaft einen moralischen Anspruch widerspiegelte, haben komplizierte Gesetze und Paragraphen den Bürgern den Umgang mit Hilfebedürftigen abgenommen und ihn instrumentalisiert. Richard, Professor im Ruhestand lässt sich die Lebensgeschichten erzählen, erinnert sich an den Beginn des „Faust“ und begreift wieder einmal, „dass wir nichts wissen können!“ Es kommt darauf an, dass man die richtigen Fragen stellt – und Richard reflektiert über die Relativität von Wissen, von Zuordnungen, von Zeichensystemen und Zuschreibungen. Zum Beispiel Grenzen: wie werden sie gezogen, mit welchen Folgen. Und immer entstehen neue Grenzen, plötzlich wird eine Absperrgrenze um ein Flüchtlingsheim errichtet. Und jede Grenze erschafft einen Gegner. Und vieles von dem, was er bereits wusste „mischt sich wieder alles anders und neu.“ (S.177)

Richard stellt sich vor, was es bedeutet, wenn jemand sagt, die sollen ihre Probleme lieber in Afrika lösen. Auf der Erledigungsliste eines ghanaischen Flüchtlings müsste dann stehen: „Korruption, Vetternwirtschaft und Kinderarbeit in Ghana abschaffen.“ (S.252)

Einer der Flüchtlinge verbringt das Weihnachtsfest auf der geschlossenen psychiatrischen Station eines Berliner Krankenhauses“ (S.291), wie sich später herausstellt wegen der unerträglichen Zahnschmerzen, die ein Loch in einem Zahn verursachen und der falschen Medikamente gegen den Schmerz. Auch der Besuch Richards mit einem der Asylbewerber bei einem Anwalt bringt nur ernüchternde Fakten zu den gesetzlichen Regelungen zur Arbeitserlaubnis zu Tage und die wirtschaftlichen Verstrickungen im „bilateralen Poker“ (S.307), nach dem Deutschland auch Waffenlieferungen in ein Land genehmigt, wenn das Land seine Flüchtlinge „zurücknimmt“. Außerdem haben diese Flüchtlinge mit ihrer Demonstration sowieso die Erwirkung einer Aufenthaltserlaubnis verwirkt, denn eine Protestbewegung dient „nicht der Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik“. Gewisse menschenrechtlich fundierte Grundrechte wie Versammlungsfreiheit gelten eben nur für Bundesbürger.

Für diese Männer ist der Frieden hier noch kein Frieden, für sie ist es immer noch Krieg, solange es keine Zukunft für sie gibt.

Jenny Erpenbeck erzählt in diesem Roman nicht „nur“ Flüchtlingsgeschichten, sie erzählt vor allem von den unverwischbaren Spuren im Gedächtnis und von den unaufhebbaren Folgen und das tut sie in einer poetischen Sprache, durch die viele Eindrücke zwischen den Zeilen erscheinen. Und durch Bilder, die sich im Kopf des Professors zu neuen Realitäten manifestieren. Der See vor seinem Haus, in dem letzten Sommer ein Mann ertrunken ist, wird in seiner Erinnerung für immer der See mit einem Toten sein. So wie die Erinnerung an die Zurückgebliebenen für die Asylsuchenden für immer mit Blut und Tod verbunden bleibt. Und sie schreibt über das Engagement dieses Einzelnen, der sich weder von Gesetzen und Behörden beirren lässt, noch durch persönliche Tiefschläge wie einen Einbruch in seiner Wohnung, von dem er nicht weiß, ob einer der Asylsuchenden sein Vertrauen missbraucht hat, davon abbringen lässt, zu helfen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: