Lutz Seiler: Kruso – Eine andere Chronik der Wende

Lutz Seiler: Kruso – Eine andere Chronik der Wende
Suhrkamp Verlag Berlin, 2014.

Deutscher Buchpreis 2014

Hiddensee, eine Insel „außerhalb der Zeit“. Nach einer persönlichen Tragödie sucht der junge Germanistikstudent Ed Zuflucht im „Klausner“, einer Gaststätte an der Steilküste, die als letzte Bastion einer idealisierten Freiheit innerhalb des Sozialismus gilt.

Ed arbeitet dort einen Sommer und Herbst lang als Tellerwäscher, er nimmt Teil an den Ritualen, die als Ausdruck einer Lebenshaltung die Crew auf dem Klausner auf besondere Weise zusammenschweißen. An diesem äußersten Punkt der DDR, auf Hiddensee stranden sie, die Aussteiger, die Flüchtlinge die im Roman als Pilger bezeichnet werden, Schiffbrüchige, sie werden im Klausner versteckt vor politischer Verfolgung. Diese Themata werden aber nur indirekt angespielt aus den ganz persönlichen Perspektiven heraus. Kruso, der Kopf des Klausners ist traumatisiert vom Verlust seiner Schwester, die einst ins Wasser ging und ihm den Auftrag gab, hier zu warten. Und er wartet und will möglichst viele bewahren vor dem Tod in der Ostsee.

Er sucht nach einer Freiheit innerhalb der Grenzen. Die Besatzung des Klausners ist eine eingeschworene Gemeinschaft auf einem Schiff, das über der Steilküste schwebt und durch den Zusammenhalt den Gezeiten trotzt. Und doch bricht die Crew im Herbst 1989 auseinander.

Lutz Seiler erzählt auf eine häufig ins traumhafte abgleitende Art und Weise, die es nicht immer leicht macht, der Geschichte zu folgen. In der ersten Hälfte des Romans ist die persönliche Auseinandersetzung des Protagonisten mit sich und seinem Schicksal der Inhalt der Geschichte, um den herum sich die Figuren des Klausners gruppieren. Eine tiefe Männerfreundschaft, ohne viele Worte, entwickelt sich, sexuelle Eskapaden reihen sich aneinander, die alle nicht über den Verlust der früheren Geliebten hinwegtrösten können. Obwohl Ed die Universität, seine Studien verlassen hat um in der einfachsten Arbeit seine Wunden zu heilen, ist doch die Liebe zur Literatur, zur Lyrik, ein tragendes Element der Freundschaft zwischen Kruso und Ed und Ausdruck der Schwere. Die Bedeutung von Trakls Gedichten mit Anspielungen auf Wahnvorstellungen, gilt es in mehrerlei Hinsicht näher zu untersuchen.

Erst in der zweiten Hälfte nimmt der umfangreiche Roman noch einmal Fahrt auf, als sich abzeichnet, dass sich die Außenwelt in umstürzlerischen Veränderungsprozessen befindet, die zunächst im Klausner gar nicht als das ankommen, was sie sind: das Ende des Sozialismus und das Ende der idealisierten Freiheit, die Kruso gegen die kapitalistischen Zwänge setzt.  Das anfängliche Bild des Klausners als Schiff wird hier in seiner Bedeutung am Ende noch einmal zur symbolischen Wirklichkeit: nach und nach verlässt die Besatzung ohne Vorankündigung den Klausner, zu zweit versuchen sie das Schiff auf Kurs zu halten, Ed und Kruso, können seinen Untergang aber doch nicht verhindern.

Jahre später macht sich Ed auf die Suche nach den Verstorbenen, die damals, vor der Wende, über die Ostsee zu fliehen versuchten und noch einmal Jahre später reflektiert er die Ereignisse.

Ein eigenartiges Buch, ein traumartiges Innenerlebnis der Wende. Wer sich in Lutz Seilers Innenwelten hineindenken kann, wird ein faszinierendes Werk mit – um im Bild des Schiffes zu bleiben – Tiefgang in Sprache und Bildern erleben aus einer ganz persönlichen Sicht der letzten Tage der DDR. Wer in diese Traumwelten nicht hineinkommt, läuft Gefahr, den Faden der Geschichte immer wieder zu verlieren.

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