Jacob beschließt zu lieben

Catalin Dorian Florescu „Jakob beschließt zu lieben“

Eine Geschichte über das Geschichtenerzählen

Eichendorff-Preis 2012

Catalin Dorian Florescu ist ein Geschichtenerzähler. In seinem Roman „Jacob beschließt zu lieben“ wird uns in aufregenden Bildern ein verschachtelter Rückblick einer Familiengeschichte präsentiert: der aus Lothringen stammenden Obertins. Wir begleiten sie vom dreißigjährigen Krieg bis nach dem zweiten Weltkrieg auf ihrem Weg durch Europa.  Die Kriege bilden die äußere Klammer um die Geschichte, die innere Klammer zeigt sich in der immer wieder kehrenden Darstellung, wie schwierig es ist, unter unmenschlichen Bedingungen ein Mensch zu bleiben. Humanismus wird zum Luxus der Saturierten. Die Armen, die Gebrandmarkten, die Verfolgten, die Geächteten können sich eine solche Lebenshaltung schlicht nicht leisten. Und trotzdem spricht aus dem Ganzen, aus dem bildhaft dargestellten Erleiden widrigster Lebensumstände, eine tief gehende Philanthropie und die Überzeugung, dass tief im Herzen, im Wesen des Menschen ein unantastbarer Kern unter allen Umständen menschlich bleibt, die Fähigkeit zu lieben behält.

Und dies zu vermitteln ist auch die Aufgabe der Geschichtenerzähler in der Geschichte.

Die Zigeunerin Ramina als Analphabetin ist gebunden an Mythen, an das für sie Unerklärliche und spinnt daraus ein Gewebe von Geschichten, die für den Jungen Jacob zwar als erfundene Geschichten durchschaubar sind, ihm aber doch Halt geben als Ersatzrealitäten in einem Leben, in das er geworfen wurde durch seine Geburt auf dem Mistkarren. Sie scheut sich nicht, für ihn zu lügen und ihm damit eine eigene Wahrheit zu schenken, die Wahrheit seiner zweiten Geburt.

Der Großvater erzählt die Wanderbewegungen der Obertins, von Caspar Obertin während des Dreißigjährigen Kriegs und von Frederik Obertin im 18. Jahrhundert während der Besiedlung des Banats. Beiden Männern machten es die Lebensumstände schwer, einen Rest Menschlichkeit zu bewahren und auf der Reise verfolgen wir als Leser Entwicklungslinien und Veränderungen. Und in dem Moment, in dem die Obertin-Ahnen sich schützend vor die ihnen Anvertrauten stellen, entwickeln sie die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, und nicht nur das, auch ein zärtliches Gefühl: die Fähigkeit zu lieben.

Dadurch, dass Geschichten erzählt werden als eine Weitergabe von Kulturgut und als Hoffnung auf Menschlichkeit, mit dem Wunsch, die kommende Generation nicht nur aufzuklären, sondern sie mit dem Herzen sehend zu machen, werden die Inhalte in den Geschichten von einer alles überlagernden Warmherzigkeit getragen. Auch wenn grausame Vorgänge geschildert werden, so obsiegt doch immer wieder ein halb verborgener, zarter Ansatz gepaart mit distanzierender Ironie, der das Entsetzen der Situation entschärft.

Das Buch beschreibt zu Beginn die Gründung des Ortes Triebswetter im Banat und beschreibt die Pflicht zum Liebesdienst. Der Liebesdienst ist aber viel mehr als eine Pflicht, viel mehr als eine Gewöhnung. Er ist das, was nicht nur die Gemeinschaft zusammenhält, sondern auch den Einzelnen in seinem Innersten. Und wenn Jacob, mit c, am Ende beschließt zu lieben, so tut er dies aus seinem innersten Wesen und auf der Basis einer Bindung, die über alle Geschehnisse hinweg Bestand hat. Und damit erfüllt Florescu eine ganz tiefe Sehnsucht in uns: die Sehnsucht nach der bedingungslosen Liebe, die nicht nur als Sehnsucht, sondern auch als Fähigkeit im Menschen angelegt ist.

Die Geschichtenerzähler erzählen ihre Geschichten vom Menschsein. Catalin Dorian Florescu erzählt uns von der unglaublichen Gabe, uns unser Selbst unter allen Umständen zu bewahren. Und macht damit das Geschichtenerzählen zu einem unersetzlichen Gut, zu einem Wesenskern des Menschseins.

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