Ilona Jerger: Lorenz

Das sind die Bücher, die im Gedächtnis bleiben. Die Geschichten von Menschen, die etwas bewirken, für die Menschheit, in diesem Fall auch für das Tierreich, für die Natur, die für ihre großartigen Leistungen ausgezeichnet wurden – für Konrad Lorenz war es der Nobelpreis – und die gleichzeitig auch widersprüchlich in sich sind, die Abgründiges denken oder tun und eben auch menschlich, allzumenschlich sind. Ich war sehr gespannt auf dieses Buch, denn bekanntermaßen hat Konrad Lorenz auch eine NSDAP Vergangenheit.

Ilona Jerger macht das sehr geschickt, indem sie hier eine Erzählerin des gleichen Fachs wie Lorenz erfindet, die als Ornithologin herangezogen wird, um die Leserinnen über manche Fachsimpelei aufzuklären, die erzählerisch nicht in den Roman gepasst hätte, und die auch die Funktion übernimmt, viele Informationen und Sachlagen zu schildern. So haben wir mit dieser Erzählerin einen fiktiven Blick, der zugleich über ausgewählte Ereignisse des 20. Jahrhunderts berichtet. Wir erfahren von einigen Geistesgrößen dieser Zeit etwas über ihre Ängste und Nöte und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus. Es gilt als ausgemacht, dass Konrad Lorenz mit seiner Forschung viele Theorien der Nationalsozialisten bestätigt und gefüttert hat. Darüber erfährt man nur ein wenig. Erst mit der Niederschrift seiner bekanntesten Bücher und mit dem Aufkommen der 68er Forderungen, das weiterarbeitende nationalsozialistische Gedankengut zu entlarven und zur Verantwortung zu ziehen, wird deutlich, dass Verhaltensforschung einem biologistischen Gedankengut mit Selektionsdruck Vorschub leisten kann. Mit seinen Veröffentlichungen hat Konrad Lorenz mehr als einmal auch später in dieses Horn gestoßen. Mag er nun als reiner Biologe und Evolutionsanhänger einen anderen Zugang dazu gehabt haben, als Politiker*innen, so muss ihm doch die historische – und auch seine persönliche – Verstrickung mit der Nazi-Ideologie bewusst gewesen sein. Als Wissenschaftler hält er an gewissen Grundsätzen bis zum Schluß fest.

Auch über andere gesellschaftsgestaltende Größen der Zeit gibt es informative und zuweilen auch skurrile Einsprengsel. Wir erfahren etwas über den Bordfunker Joseph Beuys : „Bald wird er einen Hut tragen, um eine Kopfwunde zu verbergen, die er gar nicht hat.“ S 111, über Bernhard Grzimek: „Der Veterinäroffizier, der beim Polenfeldzug die Pferdebestände koordinierte, hat ein paar Monate zuvor über seine Heimfinde-Versuche mit Kriegspferden publiziert.“ Ebd., über Karl Popper, Martin Heidegger und Hannah Arendt und einige weitere Wissenschaftsgrößen aus Lorenz’ Zeit. Und in dieser Hinsicht ist es wirklich ein Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts, das in seine wichtigsten politischen Ereignisse eingebettet ist.

Kurz bevor Königsberg zerbombt wird, besteigt Lorenz den Lehrstuhl von Immanuel Kant. Ein Umzug mit Pomp und Getöse – aus Käfigen voller Enten und Gänse, mit Milchkannen voller Barsche. Doch bald geht es an die Front und ja, die russische Kriegsgefangenschaft, die ebenfalls als medizinisches Forschungsfeld beschrieben wird, erscheint doch sehr geschönt.

Gleichzeitig will Heidegger nicht nur als Kompass der Philosophen, sondern mit der Philosophie als Kompass des Denkens und Gestaltens sein fortschrittskritisches Gedankengut mit der Welt teilen.

Interessante Zugabe: „In München wird sich am 6. Oktober 45 der Original-Bleisatz von Mein Kampf in den Flammen eines Schmelzofens in flüssiges Metall verwandeln und anschließend in die Druckplatte der ersten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung.“ S.147/48

Auch interessant und mir zum Beispiel noch nie in den Sinn gekommen: der Ursprung der Begrifflichkeiten von Triebhandlungen. Ob das dichterische Freiheit ist? Es passt zu gut: „Die beiden Abiturienten schraubten vor einem Rennen an ihren Motorrädern herum, als der Freund sagte, die technischen Begriffe wie Antrieb oder Leerlauf oder Überdruck oder Überspringen könnten ganz gut passen, um auch Triebhandlungen zu beschreiben.“ S. 300

Dass Lorenz seinen Freund Bernhard Hellmann in diesem Zusammenhang nennt, nicht aber die Tatsache, dass der im KZ ermordet wurde, passt in die Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten des gezeichneten Bildes.

Konrad Lorenz verkündet 1972 das Ökologische Manifest. In letzter Zeit ist mir das öfters begegnet, diese Nähe von ökologischen, naturverbundenen Überzeugungen und „Blut-und-Boden“ Gedankengut. Für mich eine seltsame Verbindung, gibt und gab es doch eine Vielzahl an naturverbundenen Kulturen, die weder Landaneignungen praktizieren noch faschistische Strukturen haben. Es sind zwei unterschiedliche strukturelle Denkorientierungen, die wohl zusammen gedacht werden können, die aber keineswegs in einem Zusammenhang stehen müssen, im Gegenteil.

Wie viel ist angeboren, wie viel ist erlernt, eine Frage, auf die sich die Antworten in ihrer Verhältnismäßigkeit immer wieder verschieben. Die erste Graugans, Martina, die Konrad Lorenz adoptiert und die eine zeitlang sein Leben teilt, literarisch schön beschrieben, begründet seine lebenslange Überzeugung der bedeutungsvollen, fürs Überleben entscheidenden angeborenen Verhaltensweisen. Im Österreich der dreißiger Jahre wird die Evolution im Unterricht gar nicht erwähnt. Lorenz’ Verdienst ist, die Verhaltensforschung als Teil der Biologie mit begründet zu haben – und am Ende seines Lebens hat er dann auch das große Ziel erreicht: als der Darwin des 20. Jahrhunderts bezeichnet zu werden. Eine eigene Fortsetzung von Darwins Über die Entstehung der Arten wird ihm im Bereich der Verhaltensforschung zum Nobelpreis verhelfen. Und gleichzeitig gelten sowohl Lorenz’ evolutionäre Erkenntnistheorie als auch Heideggers Schriften als Schlüsselwerke der Neuen Rechten.

Woran es genau liegt, dass dieses Buch mir gut gefällt, aber nicht zu meinen liebsten Büchern gehören wird, kann ich nicht genau sagen. Ob es die nationalsozialistische Verknüpfung ist, oder ob der Schreibstil der Autorin hier mehr Distanz hat – an Und Marx stand still in Darwins Garten kommt es für mich nicht heran.

Ilona Berger: Lorenz
Piper Verlag, München, 2023

3 Antworten auf „Ilona Jerger: Lorenz

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  1. Hallo Dagmar,

    danke für Deinen Hinweis und ausführliche Besprechung zu Ilona Jergers „Lorenz“. Vor einigen Jahren hatten wir einen Austausch zu Jergers „Marx in Darwins Garten“. Interessant finde ich die vormaligen Erfahrungen und Verstrickungen der NS-Zeit sowie auch die Erinnerung an das Ökologische Manifest.

    Womöglich in diesem Zusammenhang, erwähnte Konrad Lorenz damals in einem Zeitungsartikel etwas von der Beständigkeit des Ginkgo-Baumes, und erzählte, er hätte einen in seinem Garten. Aufgrund familiärer Weimar-Beziehungen und Goethes Gedicht „Gingo Biloba“ mochte unser Vater die Bäume und nahm gerne da und dort ein Blatt mit. Mutter bekam vom Großonkel ein goldiges Schmuckstück. So schrieb ich als Junge an Herrn Lorenz und bat um ein Ginkgo-Blatt aus seinem Garten. Er sandte zwei Blätter mit herzlichen Grüßen zurück. Das ist 50 Jahre her.

    Freue mich immer, engagierte und kritische Beiträge von Dir zu lesen und wünsche ein frohgemutes Lesejahr, herzlich Bernd

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    1. Lieber Bernd,
      das hat mich sehr berührt, deine Erzählung über dich als Jungen, der Konrad Lorenz um ein Ginkgo Blatt bittet.
      Goethe – Weimar – Ginkgo ; wir hatten mal eine Lesung hier veranstaltet zum fernöstlichen Diwan, in dem das Gedicht und das Ginkgo Blatt auch eine wichtige Rolle spielten. Also hast du zwei Gingko Blätter erhalten als Zeichen der Freundschaft, das ist ganz zauberhaft.
      Danke dir sehr für deinen Kommentag. Liebe Grüße Dagmar

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      1. Merci Dagmar,
        für Konrad Lorenz hätte der Ginkgo in seine Evolutionsgeschichte gepasst …
        Was den Divan betrifft, hatte ich 2018 hier einiges zitiert, 2019 ergänzt – und ich finde sogar ein „Like“ von Dir …
        Was mich darin erinnert, die beim Versuch einer Überarbeitung auf der Eingangsseite verloren gegangene Archiv-Leiste zu reaktivieren.
        Schöne Grüße aus Nürnberg, Bernd

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