Zeruya Shalev: Nicht ich

Zeruya Shalev ist sowohl Lyrikerin als auch Romanautorin und bei ihrem neu erschienenen Buch „Nicht ich“ ist unverkennbar die Wahrnehmung und deren Interpretation in Sprache in einem lyrischen Bildschatz gestaltet. Emotionen und Eindrücke haben etwas Surreales oder auch Überreales, wie es in alltäglichen Sprachformen gar nicht beschrieben werden kann.
Im Hebräischen ist dieser Titel bereits 1993 als ihr Debüt-Roman erschienen, nun liegt er endlich auch in deutscher Übersetzung vor. Man merkt diesem Buch an, dass sie kurz vorher einen Lyrik-Band veröffentlich hatte. Die Geschichte des Romans: „Wie überlebt man es, die Familie für eine neue Liebe zu verlassen?“

Ein Mittel, wie sie eine gewisse Distanz zwischen sich und dem sie Überwältigenden einbaut, ist die unpersönliche, sprachliche Fixierung der Figuren auf Muster-Rollen: Der Mann, das Kind, der Geliebte, der Ex-Geliebte. Das macht es als Leser*in nicht immer ganz leicht, weil man tatsächlich vollkommen in der Beschreibung eines rauschhaften Zustands gefangen – und befangen – bleibt und keine Chance hat, irgend etwas für einen Augenblick aus der Perspektive einer anderen Person zu betrachten. Die anderen sind Spielfiguren, die auftauchen und wieder verschwinden, ihren Platz verrücken oder sich in eine Kuckucksuhr verwandeln.

„Manchmal fragte ich mich, was das Mädchen wusste. Einige Leute sagen, Kinder wüssten nichts, und andere sagen, Kinder wüssten alles. Mein Mädchen wusste manchmal alles und manchmal nichts. Einmal sagte sie: >>Passt gut auf den Tempel auf.<< Wir fragten sie: >>Welcher Tempel?<< Sie sagte: >>Unser Haus ist der Tempel.<< (…) Manchmal fragte ich mich, was ihr Schicksal besiegelt hat. War es, dass sie nur das Gelbe vom Ei mochte und das Weiße hasste? Oder dass sie den Buchstaben >>L<< nicht aussprechen konnte? Oder dass sie morgens weinte: >>Warum hat der Morgen nicht auf mich gewartet?<< Oder dass sie ihre dünnen Arme wie eine Kletterpflanze um mich schlang und mir die Sonne verstellte? S.50/51

Als Debütroman hatte es dieses Buch schwer, denn es gab nichts, worauf man sich hätte stützen können, worauf man hätte vertrauen können und gerade das ist es ja, was das Buch erschütternd erzählt: nicht einmal auf die Sprache kann man sich verlassen. Und es lässt einen auch ratlos zurück, mit einem dumpfen Gefühl, das das Ungesagte hinterlässt. Das erzählende Ich sagt von sich, sie sei zwölfeinhalb:

„Und dann, noch bevor ich mich in acht nehmen konnte, noch bevor ich mit dem Kopf unter die Decke verschwinden konnte, legte er seine kalte Hand auf mein Haar. In ebendieser Nacht bin ich schwanger geworden.“ S.74

Weinen wird erbrochen, Tränen kommen aus dem Rachen. Die Erzählerin hält sich selbst nicht aus, sie hat für sich keine Rolle mehr, in der sie sich finden könnte. Das ewige Drama der freiheitsliebenden und das Leben ergreifenden Frau. Über dreißig Jahre alt hätte das Buch unbemerkt von heute sein können.
Szenen werden ineinander verflochten, ohne dass eine zeitliche Kausalität erkennbar wäre. Doch am Ende erscheint die ganze episodenhafte Erzählung wie ein Rückblick auf die Ereignisse, die nun offengelegt werden sollen in einer „Erinnerungszeremonie“:

Diesen Mann kenne ich!<<, schreie ich, nicht ihm, sondern meinen Eltern zu, die verlegen in der Ecke sitzen. >>Er war die Liebe meines Lebens, das kann man sagen, auch wenn es klingt, wie ein schlechter Witz. Stellt euch vor<<, ich gehe auf sie zu, so nah, dass ich im nächsten Moment auf ihrem Schoß sitze >>stellt euch vor, eines Tages habe ich diesen Mann, diesen toten Kater im Land der Haare getroffen. Stellt euch vor, dass wir meine Verluste und seine Verluste zusammengezählt haben, bis nichts mehr übrig war. Wer hätte gedacht, dass ich ihn noch einmal sehen werde, und dazu noch in einer so hohen Position, dass ausgerechnet er meine Erinnerungszeremonie leitet, eine Zeremonie, auf die ich jahrelang gewartet habe.<< S199

Zeruya Shalev mutet uns hier etwas zu, der Roman liest sich nicht leicht weg, er ist etwas Besonderes und ich bin froh, dass er jetzt doch noch übersetzt wurde. Auch wenn ich ihren nächsten Roman „Liebesleben“ lieber mochte.

Zeruya Shalev: Nicht ich
Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2024

Eine Antwort auf „Zeruya Shalev: Nicht ich

Add yours

Hinterlasse eine Antwort zu Anonymous Antwort abbrechen

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑