Dieses Buch hat mich ganz und gar in seinen Bann gezogen. Schon der erste Roman von Raphaela Edelbauer: „Das flüssige Land“ hat mich begeistert, weil es eine selten so wahrgenommene Gabe ist, Worte einsetzen zu können, die auf ganz unmittelbare Art komplexe Gefühle und gleichzeitig Bildwelten zum Ausdruck bringen. Deshalb ist man auch so gebannt: man sieht und spürt Dinge, von denen man bisher nicht wusste, dass man sie sehen und spüren kann. Eine der großartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeiten!
Die Inkommensurablen – das sind einerseits Irrationalzahlen:
„Sie sind unendlich, manchmal transzendent und können doch von jedem Kind mit einem Dreieck gezeichnet werden.“
S. 42
Und andererseits auch die Hauptpersonen dieses Romans. Nicht vergleichbar und nicht zusammen messbar. In der Wissenschaftstheorie beschreibt die Inkommensurabilität die teilweise oder vollständige Unübersetzbarkeit von Begriffen der einen Theorie in die einer anderen. Im literarischen Sinne könnte man sagen: Was Raphaela Edelbauer hier aufs Papier bringt, ist eine ganz und gar ungewöhnliche Perspektive, eine inkommensurable Betrachtung der Verhältnisse – oder Unverhältnisse – zu Beginn eines Krieges.
Die drei Hauptfiguren Adam, Hans und Klara könnten unterschiedlicher nicht sein, der eine ein junger Offizier, für nicht anderes ausgebildet als für die militärische Laufbahn, der andere ein Tiroler vom Land, der als gebildeter Bauern-Knecht verdingt war und die dritte eine Mathematik-Promovendin. Was sie alle in ein Verhältnis zueinander setzt: diese unglaubliche Zeit vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs im Juli 1914 in Wien, noch 36 Stunden bis das Ultimatum ausläuft, als junge Männer eingezogen werden. Während der Geschichte wird man zum/r Begleiterin einer intellektuellen Avantgarde und eines abgestürzten Mobs in die Unterwelt und in die exzessiven Partys, die Umbruchzeiten im Besonderen vorausgehen und folgen. Aber noch etwas anderes setzt die drei jungen Menschen in ein nicht konventionelles Verhältnis zueinander: sie begegnen sich bei der Therapeutin Helene, von der Hans glaubt, sie sei Psychoanalytikerin. Denn dort will er hin, um über seine Träume zu sprechen, die von der Vergangenheit und von der Zukunft handeln an Orten, die ihm nicht bekannt sein können, aber echt sind. Dort begegnet er Adam und Klara, die ebenfalls „Patientinnen“ von Helene sind und er erfährt von einem „Cluster“ von Träumern, die ein besonderes Phänomen darstellen und deren Fäden bei Helene zusammenlaufen. Alle haben eine Erscheinung, alle haben dasselbe Sehnen, das manche von ihnen beinahe um den Verstand bringt. Helene ist die Untersucherin diese Phänomens, vielleicht auch die Versucherin. Sie entpuppt sich als doppeldeutige Figur, mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Besonders perfide ist am Ende die unter Rekurs auf Le Bon und seine „Theorie der Massen“ herbeigezauberte wissenschaftliche Erklärung der Phänomene. Man glaubt ihr aber nicht ganz. Es ist zu unwahrscheinlich, nach der Lektüre dieses Buches nur im Wahrscheinlichen Erklärungen zu finden.
Die Dialoge sind phänomenal gut und erinnern mich von der Stimmung her irgendwie an Thomas Manns „Doktor Faustus“. Es geht um Politik, um psychologische Archetypen, um das Transzendente, die Zeit, um mathematische Diskurse und um Arnold Schönbergs Zwölftonmusik. Und es geht um 500 Menschen, die in derselben Symbolik träumen. Ist es Massensuggestion? Also sowohl die politischen Befindlichkeiten als auch die psychologischen?
„Nein, es ist mehr. Es gibt eine Sphäre gemeinsamer Herkunft, die älter ist als unsere Wahrnehmung selbst, und in dieser Sphäre können sich Gefühle übertragen. Vielleicht leben unsere parapsychologischen Affekte in etwas, das ebenso basal ist – nicht übernatürlich, sondern als Fundament des Natürlichen. Ganz einfach vorgängig.“
S. 235
Und dann wird es auch zu einem aktuell brisanten, politischen Buch: was geschieht mit den Massen, wie bildet sich eine Mainstream-Meinung und wie können suggestibel große Gruppen von Menschen auf etwas hin manipuliert werden?
„Dort hinten, wo der Kanal wieder in den Ring überging, eröffnete sich ein riesenhafter Schlund, in den die Menschen marschierten. Er konnte die breiige Zunge sehen und das zuckende, von Adern überzogene Zäpfchen. Er erkannte die kalten Schleimhautfalten eines Lurchs und seinen Kehlkopf, der so stark bebte, dass man die schwalligen Schlucke erahnen konnte. Für einen Augenblick wollte er unterm Trugbild dieser Lichtspiegelung die Menschen warnen, wollte wenigstens die Kinder herausziehen. Doch er begriff, dass es vergebens war. Nein, das waren keine Menschen mehr, es war eine Masse.“
S.347
Das Beste, was ich in letzter Zeit gelesen habe.
Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen. Klett Cotta, Stuttgart, 2023
Danke für Deine Buchrezession.
Freue mich darauf, es ebenfalls zu lesen.
Gruß…Ernst
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Das Buch hat mich wirklich gefesselt, lieber Ernst, inspirierende Lektüre wünsche ich. Liebe Grüße
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Danke Dagmar, für Deine Lektüre,
ja, wie Vieles ist doch nicht messbar und nicht vergleichbar.
Gute Wünsche und herzliche Grüße
Bernd
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Danke Arnold. Gute Zeit und herzliche Grüße.
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