Schon ist ein ganzes Jahr vergangen, seit wir Neulinge waren im Umgang mit unseren Ängsten und Sorgen, bezogen auf die Pandemie und die Zukunft. Ein Jahr später werden wir – nicht alle, aber viele – immer noch gebeutelt vom emotionalen Hin- und Hergeworfensein zwischen Verzweiflung, Mut, und Hoffnung, und beobachten viele Veränderungen, für die wir noch keinen Namen haben. Maja Lunde schreibt über die Tage des ersten Lockdowns. Es sind nur gute zwei Wochen, die sie beschreibt auf die ihr eigene Art, in der sie direkten Zugang zu ihren Emotionen gewährt.
Es ist die Verletzlichkeit, die persönliche und die kollektive, die durch dieses Tagebuch noch einmal aufscheint aus einer Vergangenheit, die noch andauert und in der sich neue Verhaltensweisen festgesetzt haben.
Noch nie haben so viele von uns versucht, mit so vielen emojis ihre Gefühle zu umreissen. In den vielen Nachrichtengruppen mit Familie und Freunden wurde manches mal ein flapsigerer Umgang mit den Einschränkungen kommuniziert, als die geheimen Sorgen und Nöte vermuten ließen. Und gleichzeitig lag etwas dystopisch Unwirkliches in der Luft, im Großen und im Kleinen.
„Wenn dies ein Roman wäre, würde man ihn dann als Dystopie bezeichnen? Das Wort Dystopie hat den Geschmack von großer Dramatik, nicht von Homeoffice, Geschirrstapeln, Desinfektionsmittel und Lagerkoller.“
Maja Lunde: Als die Welt stehen blieb. S.92
Es ist etwas geschehen, wozu dieses literarische Tagebuch als persönliches Erinnerungsfragment das beschreibt, an dem sich viele gemeinsame Verhaltensweisen spiegeln lassen. Auch das kollektive Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben.
„Ich werde das Gefühl nicht los, in eines meiner eigenen Bücher geraten zu sein. Aber wenn ich schreibe, habe ich alle Macht. Jetzt bin ich machtlos.“
Ebd. S.100
Jede/r hat ihr/sein persönliches Verhältnis zu Corona. Es ist alles gleichzeitig da. Es gibt Gemeinsamkeiten und mehr Nähe. Es gibt Differenzen und größere Distanz. Die Polarisierung durch Corona hat noch ganz andere, neue Gräben aufgerissen.
Maja Lunde gibt einen ganz persönlichen Einblicken in eine chaotische Zeit, in der nichts mehr selbstverständlich war.
„Ich habe eine Affaire mit Corona, das ist wie ein Seitensprung, ein destruktives, heimliches Verhältnis, ich sitze hier im Dunklen und nur das Display erhellt mein Gesicht, ich bin völlig übermüdet, mein Mann liegt dort drinnen im Bett und schläft, aber ich verbringe all meine Zeit mit der Pandemie, nicht einmal nachts kann ich mich davon losreißen.“
Ebd. S.209
Es ist schon fast ein Jahr vergangen seit dem ersten Lockdown. An manches hat man sich schon fast gewöhnt. Und vieles bleibt immer noch im Hals stecken. „Als die Welt stehen blieb“ wird ein Zeitzeugnis bleiben.
Maja Lunde: Als die Welt stehen blieb
Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München 2020
Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar
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