Womit könnte man der „Fifty-Shades-of-Grey-Generation“ die Madame Bovary schmackhaft machen? Sicher nicht mit dem zunächst beinahe banalen Storyplot eines Liebesdramas aus dem 19. Jahrhundert. Und doch. Es steckt etwas darin, etwas vom ewigen Wahnsinn der leidenschaftlichen Liebe, etwas von der Versuchung des Verderbten und etwas von dem Sog, den die Sehnsucht, bis zum Letzten zu gehen, und sei es um den Preis des Lebens, damals wie heute ausübt.
Und wodurch zeichnet sich so eine überkommene, dramatische Liebesgeschichte, erstmals erschienen 1856, als Weltliteratur aus? Die Geschichte ist bekannt: eine junge, überspannte Frau, die in ihrer Anbetung an Gott nicht zu ihrer Seligkeit finden konnte, lebt, an der Seite eines mittelmäßigen Provinzarztes, ein tristes Leben, das allein durch schwärmerische Literatur eine Bereicherung erfährt. Emma Bovary stürzt sich in die Schwärmerei wie eine Ertrinkende und geht doch gerade darin unter. Zu Beginn scheint ihr noch die Phantasie auszureichen, die Illusion hat die Lebensrealität verdrängt. Im ersten ehebrecherischen Verliebtsein nährt sie ihre Sehnsüchte noch mit ihrer Vorstellungskraft. Die andere Person ist nur Statist für ihre Illusion. Doch sie wird verführbar und geht ein Verhältnis ein. Mit der Liebschaft kommt nicht nur die große Leidenschaft endlich in dieses trostlose, bürgerliche Leben, das sie so sehr verachtet, auch die Leiden daran und die Lügen dafür wachsen sich aus. Und dann kommt das Manische in die schwärmerische Sehnsucht. Emma Bovary wird zur Süchtigen nach dem Liebesabenteuer, die bald den schalen Nachgeschmack des mit allen Mitteln nicht aufrechtzuerhaltenden Reizes zu schmecken bekommt. Extravagante Einfälle verbunden mit exorbitanten Ausgaben stürzen sie in den Ruin. Sie begeht den letzten Verrat: sie verrät sich selbst. Um ihren Ruin abzuwenden würde sie sich an einen früheren Geliebten verkaufen.
Zurück zur Ausgangsfrage: Was macht diesen Schinken zur Weltliteratur? Theoretisch könnte man den Roman einfach als Liebes-Leidensgeschichte so weglesen. Aber es entginge einem Einiges. Nicht umsonst hat Jean Paul Sartre in seinem ominösen Werk „Der Idiot der Familie“ jahrelang über Flaubert gearbeitet. Ohne nun in die biographischen Details gehen zu wollen, nur ein kurzer Hinweis: „Madame Bovary, c’est moi.“ Elemente mehrerer Figuren im Roman sind biographisch gefärbt und im Besonderen die tief sitzende Sehnsucht, mittels Ausschweifungen die bürgerliche Enge zu verlassen, war wohl auch Flaubert eigen, wenn er auch nie in einer Beziehung und bis zu deren Tod mit seiner Mutter zusammen gelebt hat.
Es gibt viele Interpretationsansätze. Im literaturhistorischen Zusammenhang ist die Bovary als ein frühes Werk des Realismus – wenn auch Flaubert sich nicht als Realisten gesehen hätte – eine Abrechnung mit der Literatur der Romantik. Partiell sehr detailversessen werden die schwärmerischen Sehnsüchte in eine realistische Umgebung gepackt, die gleichsam den ernüchternden Gegenpart zur erträumten Welt stellt. Es gelingt Emma nicht, ihr Leben nach der Literatur zu leben. Die Phantasie ist nicht realer als die Lebenswelt. Jedem Hochgefühl folgt die bittere Ernüchterung auf dem Fuße. Und das Gebaren der „Bürgerlichen“ in all seiner Scheinheiligkeit, in dem ganzen Geltungsbedürfnis und in seiner eigennützigen Falschheit wurde wohl auf damals als skandalös empfundene Art und Weise von Flaubert offengelegt (wobei das andere meines Erachtens zur selben Zeit noch viel direkter gestalteten, z.B. Stendhal und Balzac, im deutschsprachigen Raum: Büchner).
In der Bovary gibt es überall eingestreut kursiv gedruckte Sätze, die wohl aus seinem Sammelwerk: „Wörterbuch der Gemeinplätze“ (Dictionnaire des idées reçues) entstammen und die klischeehaften Worthülsen des Bürgertums persiflieren. Dass sich die „Académie Française“ über dieses unvollendet gebliebene Wörterbuch geärgert hat, ist klar, traf es sie doch selbst bis ins Mark.
Am meisten beeindruckt hat mich Flauberts Schreibweise. In einem separaten Raum, dem Gueuloir, hat er sich laut die Sätze vorgesprochen oder sogar zum Fenster hinausgebrüllt und manchmal einen ganzen Tag mit nur einem Satz verbracht. Man sollte ihn wohl im Original auf Französisch lesen, denn der Sprachkünstler hat sechs Jahre seines Lebens dem Klang dieses Romans gewidmet. Oder in der neuen Übersetzung von Edl, die bisher anscheinend am besten den klanglichen „Faltenwurf“ der Flaubert’schen Sprache herausgearbeitet hat.
Übrigens: Bovarismus oder Bovarysmus ist ein psychologischer Begriff geworden, der eine überspannte Sehnsuchtshaltung, die sich zu einer Flucht ins Imaginäre auswächst, bezeichnet. Die Académie Francaise definiert Bovarysmus als: „Gefühl der Unzufriedenheit, das eine Person hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Liebeslebens empfindet und sie dazu führt, Zuflucht im Romanhaften und Imaginären zu suchen.“ Klingt ein bisschen platt und antiemanzipatorische Klischees bedienend. Die diffuse Sehnsucht, die nur in der Grenzüberschreitung vorübergehende Erfüllung findet und dafür den Verlust des Realitätsbezugs in Kauf nimmt, und bis zum Suizid führt, beschreibt eine größere Flucht, als die aus dem gesellschaftliche Leben.
Gustave Flaubert: Madame Bovary, in der Übersetzung von Elisabeth Edl, Hanser, München 2012
Kommentar verfassen