Franz-Xaver Kaufmann: Sozialstaat als Kultur

Kann der Sozialstaat als normatives Projekt auf Europa ausgeweitet werden? Oder können wir unterschiedliche gewachsene Wertsetzungsmodelle vergleichend gegeneinanderhalten und auf ihre Vereinbarkeit überprüfen am Begriff der Solidarität?

Der Sammelband von Kaufmann verbindet von 1999 bis 2014 die Grundlegungen zu den Voraussetzungen eines europäischen Sozial- oder Wohlfahrtsstaats. Gesammelt sind Beiträge zur Sozialstaatstheorie, die immer noch Gültigkeit beanspruchen, gleichwohl aber auch weiterer Aktualisierung bedürfen. Der hier daraus besprochene Vortrag „Die Tauglichkeit des Sozialstaats“ stammt von 2013.

Die Länder, die wir heute als „Wohlfahrtsstaaten“ bezeichnen, haben eine vorausgehende Gemeinsamkeit: Die Anerkennung einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen, und zwar auf normativer Basis. Die Umsetzung dieses Anspruchs erfolgt in erster Linie auf der politisch-rechtlichen Anerkennung und im weiteren auch in den sozialen Rechten. Und wenn wir von Rechten handeln, ist auch einsehbar, dass ein Rechtsstaat ein konstitutives Moment für den Wohlfahrtsstaat bildet. In dem Moment, in dem wir von einem Recht auf Solidarität sprechen, handeln wir von etwas anderem als von freiwilligen Almosen. Hier wird der Eigennutz in bestimmten Bereichen delegitimiert. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Steuerungsinstrument, um zwischen Politik und Ökonomie eine Ebene einzubauen, in der Solidarität als vermittelnde Bereitschaft unter spezifischen Bedingungen einen weiteren Gesellschaftszusammenhang darstellt.

Franz Xaver Kaufmann fasst einige wichtige Entwicklungen, die den Gedanken des Wohlfahrtsstaates, wie wir ihn heute kennen, vorbereitet haben, zusammen: die kulturelle Revolution als Aufklärung, die wirtschaftliche Revolution als Industrialisierung und die politische Revolution als Demokratisierung haben im Vorfeld den Boden bereitet. Noch während des zweiten Weltkriegs waren die Atlantikcharta 1941 als Basis des Zusammenschlusses der Vereinten Nationen, dann die Charta der Vereinten Nationen, in welcher bereits die Gewährleistung von sozialer Sicherheit formuliert wurde, die Erklärung von Philadelphia, 1944 mit einem universalistischen Programm der Sozialpolitik, und schließlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948, mit dem Bereich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, diejenigen internationalen Vorgaben für die Entwicklung des Wohlfahrtstaates wie wir ihn heute kennen. (Ebd., nach S.49-52)

„Aus diesem Grunde schlage ich vor, als Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten nur solche Staaten zu bezeichnen, die eine Verantwortung für die elementare Wohlfahrt aller ihnen Zugehörigen als Staatsaufgabe anerkennen, in ihrer politischen Programmatik soziale Probleme berücksichtigen und in erkennbarer Weise durch entsprechende Maßnahmen bearbeiten.“ (Ebd., S.53)

Übrigens haben die Vereinigten Staaten von Amerika den Teil der Menschenrechtserklärung, der unter dem Titel „Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ als Vertrag in den 60er Jahren vorgelegt wurde, nicht ratifiziert.

„Wie auch immer man einzelne Maßnahmen beurteilen mag, dass der Sozialstaat dazu beiträgt, das Bewusstsein in der Bevölkerung zu verbreiten, unter einigermaßen gerechten Verhältnissen zu leben, ist schwer zu bestreiten. Alle Meinungsumfragen bestätigen die große Anhänglichkeit der Bevölkerung an den Sozialstaat, und zwar nicht nur in Deutschland (Roller 1992; Andreß/Heien/Hofäcker 2001, Ullrich 2008). Auch in dieser Hinsicht wirkt somit der Sozialstaat als Stabilisator der politischen und sozialen Verhältnisse. Er trägt wesentlich zur Akzeptanz der herrschenden politischen Ordnung bei.“ (Ebd., S.63)

Nun, als institutionalisierte Einrichtung zur Dämpfung des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit verdient der Sozialstaat zunehmend mehr Kritik. Spätestens seit der Agenda 2010 ist der Sozialstaat zu einem Wirtschaftsfaktor verkommen. Die von Kaufmann angegebenen Quellen zur Akzeptanz haben schon ein paar Jahr auf dem Buckel und was fehlt, ist die ergänzende Frage, ob neben der Anerkennung des Sozialstaats auch eine Zufriedenheit mit seinem Ausmaß an Ausgleich zwischen Markt und Staat herrscht. Die Diskussionen der jüngeren Vergangenheit weisen doch wohl eher auf ein zunehmendes Bewusstsein einer gravierenden Schieflage, die sich unter dem Deckmantel eines Wohlfahrtsstaates noch zu verbergen sucht, hin. Auch ist man in der Bevölkerung zunehmend mit der Aufgabe der Politik in dieser Angelegenheit unzufrieden und thematisiert öffentlich, dass die oben genannte Voraussetzung der grundsätzlichen Anerkennung der Gleichheit in einer zunehmend auf Ungleichheit basierten, marktorientierten Wirtschaftswelt, mehr und mehr zur Farce verkommt. Mittlerweile regt sich sogar ein fürchterlicher Verdacht: ist vielleicht der Wohlfahrtsstaat weder auf dem Gedanken der Gleichheit, noch dem der Gerechtigkeit oder nach einem Grundsatz der Solidarität entstanden, sondern lediglich als kleines Zugeständnis, um die ausgebeuteten Massen still zu halten? Wenn um grundlegende Zugeständisse heute gefeilscht wird, als wäre der Sozialsektor ein verhandelbares Gut, bei dem es auch um Gewinnmaximierung geht wie auf dem freien Markt, und wenn eine zunehmende Schieflage gleichzeitig einen zunehmenden Abbau des Wohlfahrtsstaates bedeutet bei gleichzeitiger Steigerung der Nettogewinne …, ist ja alles bekannt. Man braucht sich doch nicht zu wundern über steigendes revolutionäres Potential!

Nichtsdestotrotz sind für die Formulierung einer gemeinsamen Sozialpolitik für Europa die normativen Grundlegungen die Begründungsbasis für Verhandlungen auf der sozialen Ebene. Wenn man sich die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ anschaut, die seit dem Vertrag von Lissabon 2009, bindendes Vertragselement ist, dann bewegen wir uns in einer Diskussion um Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Aber auch auf dieser Ebene sieht es momentan so aus, als ob die sozialpolitischen Verhandlungen auf eine marktkonforme Kosten- Nutzen- Rechnung reduziert werden.

Franz-Xaver Kaufmann: Sozialstaat als Kultur, Springer Fachmedien Wiesbaden, 2015

2 Kommentare zu „Franz-Xaver Kaufmann: Sozialstaat als Kultur

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  1. Vielen Dank für die Vorstellung dieses Buches, das hilft, die politischen Diskussionen um ein Wohlfahrts-Europa und seine offenkundigen Brüche genauer zu beurteilen.
    Viele Grüße, Claudia

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