Wir wollen auf 4350 Meter hinauf. Es fällt mir nicht schwer, ich bin fit, gehe ein gemäßigtes Tempo. Und heute weiß ich: es ist nicht das Gipfelerlebnis. Es ist das Gehen, das die Faszination ausmacht. Und hier oben, in dieser merklich dünner werdenden Luft, habe ich das Gefühl, nein, das Wissen, dass alles ganz einfach ist. Die Gedanken sind glasklar. Es stimmt nicht, dass man beim Bergsteigen seinen Alltag vergisst, nein, der Blick darauf ist ein anderer. Alles ist reduziert und vereinfacht. Es gibt nur einfache Entscheidungen, nichts was ablenkt. Mir erscheint mein eigenes Denken so einleuchtend wie das Glitzern der Schneekristalle um mich herum. Plötzlich weiß ich, wie ich die Struktur meines Doppellebens aufbauen muss, wie ich in der Lebenswelt meine verschiedenen Aufgaben unter einen Hut bringe, wie ich reagieren werde. Es wird alles so klar und leicht und ich freue mich auf alles, was in nächster Zeit auf mich zukommt, und ich freue mich einfach am Gehen, Schritt für Schritt hinauf.
Creative Commons, Urheber: Francofranco56
Über 4000 Metern wird die Psyche plötzlich labil. Die Konzentration lässt nach. Es ist nicht mehr möglich, lange einen Gedanken zu verfolgen. Eindrücke sind Gefühle, Gedanken sind Empfindungen. Und da kommt etwas ganz anderes auf mich zu. Es wird schwer, es drückt mich nieder, aber es ist immer noch klar: es spielt keine Rolle! Es spielt alles keine Rolle! Nicht was ich wünsche, plane, tue, nicht wer ich bin. Wer bin ich denn? Ein unfruchtbares, einsames Geschöpf, das keine Spuren hinterlassen wird, von dem niemals wirklich jemand wissen wird, wer es eigentlich war.
Und in diesem Moment weiß ich: es spielt keine Rolle, alles. Es wäre in Ordnung, jetzt zu sterben. Ich bin noch keine 40 Jahre alt, aber auch das spielt keine Rolle. Und der Gedanke, jetzt einfach zu gehen, macht mich nicht traurig. Ich fühle mich leicht, so unglaublich leicht. Wir stehen am Scheideweg. Der Gipfel ragt weiß in den Himmel. Wir verweilen noch am Fuß des Lyskamm auf einem Grat, von dem aus man das Panorama in mehrere Richtungen bestaunen kann. Die Welt liegt uns zu Füßen; wir stehen über den Wolken, über dem Leben in den Dörfern, über den Alltagsmühen und über allem, was man in diesem Leben erreichen will. Wir schauen in die Schweiz und suchen das Matterhorn, ein kleines markantes Dreieck, nach Frankreich zum Mont Blanc, nach Italien Richtung Gran Paradiso. Für diesen Moment ist hier das Zentrum der Welt und der Augenblick ist
d e r Augenblick, weil er die Summe des Gehens ist: ich lasse los, ich bin frei. Für diesen einen Moment bin ich frei. Und entscheide mich, alleine zurückzugehen.
Der Autor sagt zwar nicht genau, worüber er nachdenkt – doch im Grunde spielt das wirklich keine Rolle. Zwar war ich selbst noch nie so weit oben, doch ich kann seine Gedanken bzw. eher Gefühle trotzdem gut miterleben, weil sie so wunderbar deutlich aufgeschrieben sind. Vielen Dank.
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Die Prosaminiaturen sind Schnippsel einer umfangreicheren Geschichte. Sie können für sich selbst stehen, aber du hast natürlich recht, man fragt sich, was der zugrundeliegende Konflikt sein könnte. Wenn du es im Zusammenhang sehen magst, siehe „Dem Meer zugehörig“. https://literaturimfenster.wordpress.com/2017/03/11/prosaminiatur-dem-meer-zugehoerig/
Danke für deinen Kommentar, liebe Petra.
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