Zwischen klassischer und moderner Literatur habe ich mir mal wieder Tagebücher als Lektüre gewählt. Und mich im Nachhinein gefragt: Warum? Es war genau dieses Zitat, das den Untertitel gibt und das mich getroffen hat. Und für mich selbst gibt es noch eine Ergänzung: „Ich lese, um herauszufinden, was ich denke.“
Es ist eine unstillbare Neugierde, auf immer wieder neue, noch einmal ganz andere Facetten anderer Leben. Natürlich, ich habe auch immer ein bisschen das Gefühl, mich eines gewissen Voyeurismus schuldig zu machen. Kafka hätte nie gewollt, dass Max Brod seine Tagebücher herausgibt. Aber für mich war diese Lektüre in jungen Jahren wie eine intellektuelle Erweckung. Nun also Susan Sontag, herausgegeben von ihrem Sohn David Rieff. Bekannt ist sie mir aus dem Studium mit dem provozierenden Aufsatz „Against Interpretation“.
Es ist eine Reise in vergangene Zeiten, eine Art Schauplatz der Themen einer Intellektuellen mit vielen Literaturhinweisen, z. B. einer Anthologie idealer Kurzgeschichten und den Anstrengungen einer Schriftstellerin, wie sich der Sprachwortschatz erweitern lassen könnte, um besser schreiben zu können. Es ist aber auch ein Buch über die Liebe und den Schmerz.
Es beschreibt die Suche nach Selbstvergewisserung einer durch die Liebe immer wieder schwer Verletzten. Angefangen bei der Analyse ihrer Beziehung zur Mutter – oder der Mutter zu ihr, einer Mutter, die nachmittags sternhagelvoll im Bett lag. Sie wird in ein Rollenspiel gezwungen, das sie selbst als Person verbirgt. Eine tiefe Verunsicherung und das Bedürfnis, dem durch besondere Leistung etwas entgegenzusetzen läuft wie ein roter Faden durch das Buch.
„Ich wäre mehr ich selbst 1. Wenn ich weniger von dem verstünde, was andere meinen, 2. Wenn ich weniger von dem konsumieren würde, was andere hervorbringen, 3. Wenn ich weniger lächeln würde …“ (206)
Viele Reisen, viele Listen über unzählige gesehene Filme vermitteln den Eindruck einer unermüdlichen Beobachterin des Lebens. Sie sammelt den Stoff für ihre Essays und literarischen Arbeiten und bleibt in ihrem eigenen Schaffen immer unzufrieden mit sich: „Ich muss nicht nur den Mut aufbringen, eine schlechte Schriftstellerin zu sein – ich muss es auch wagen, wirklich unglücklich zu sein.“ (428) Sie bedient sich „aus den Brunnen anderer Menschen“ (250) und hat dabei keinen größeren Wunsch, als sich einem Menschen vollkommen hinzugeben. Es sind hauptsächlich Frauen, die sie liebt, die sie viel mehr liebt, nach ihrer eigenen Einschätzung, als sie geliebt wird. Aber auch das alltägliche soziale Leben bereitet ihr große Mühe.
„Auf Partys fühle ich mich nicht authentisch (…) man spielt Rollen.“ (296) „Aber wenn ich mich in die Welt hinausbewege, empfinde ich das als moralischen Abstieg – wie Liebe im Bordell zu suchen.“ (297) Es ist das absurde Aufeinanderprallen einer inneren und einer äußeren Welt, die nicht zusammengehen. Und dieser sehr hoher Anspruch an sie selbst, der sie unermüdlich arbeiten lässt.
Erschüttert hat mich aber eine Stelle, an der sie schreibt, sie habe sich über Jahre in ihrer Freizeit mit Menschen umgeben, mit denen sie keine Silbe über Literatur und ihr Schreiben ausgetauscht habe. Diese Menschen hatten also keine Ahnung, wer sie eigentlich ist, denn ihr Schreiben ist der Teil, in dem sie ihr Selbst ausdrückt.
Im Vorwort leitet ihr Sohn David Rieff ein in das Buch, das man „auch als politischen Bildungsroman betrachten“ (9) kann. Er weist darauf hin, dass die Tagebücher nicht als Autobiographie gelesen werden dürfen, sie vermitteln nicht das ganze Bild, denn in ihren guten Zeiten schrieb sie am wenigsten Tagebuch. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Sie schreibt, um die Menschen zu finden, die sie nicht kennt. Und: „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.“
Susan Sontag: Tagebücher 1964-1980, Hanser Verlag, München 2013
Lange schwang dieser Satz „ich schreibe (lese), um herauszufinden, was ich denke“ in mir nach. Kann dieser Wunsch Realität werden oder ist er vielmehr paradox? Sobald man wüsste, wie man denkt, ist es wie mit der Zeit: Ein Moment der Gegenwart ist im gleichen Moment bereits Vergangenheit, d.h. analog, wenn ich weiß, wie ich denke, denke ich schon wieder anders.
Oder, sobald mentale Modelle scheinbar zu einem Abschluss kommen, werden diese in Schemata (Schubladen) verfrachtet, sind aber möglicherweise nur für eine kurze Zeit gültig.
Eigentlich sagt Susan Sontag es treffend aus mit „Es ist das absurde Aufeinanderprallen einer inneren und äußeren Welt, die nicht zusammengehen.“: Sobald man innehalten will mit dem eigenen Verständnis, die Welt und die Rahmenbedingungen laufen weiter und wupps, …alles von vorne – was das Leben letztendlich lebenswert macht.
Danke für den Buchtipp
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Lieber Ernst,
ja, dieser Titel hat es echt in sich, den kann man hin und her drehen, so rum ist es richtig und anders herum und gleichzeitig nicht. Und in der Reflexion über das Denken denkt man schon wieder anders, da hast du recht.
Der Satz mit dem absurden Aufeinanderprallen ist von der Anregung her aus Camus‘ „Der Mythos von Sisyphos“. Das ist eine Textsammlung philosophischer Essays, die ich dir sehr empfehlen würde.
Danke fürs kommentieren, immer ein Vergnügen!
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