Dieser sehr lesenswerte Vortrag von Hannah Arendt zur politischen Philosophie ist wunderbar eingeführt von Matthias Bormuth, er hebt ab auf die Bedeutung des Selbstgesprächs, des Dialogs mit mir selbst für das abstrakte Denken und im besonderen als einer dem Denken inhärenten Pluralität, der Vielfalt der Perspektiven, die notwendig sind, um die Welt zu erschließen. Er führt ein in Arendts Argumentation, warum aus dem historischen Geschehen heraus Platon seinen Schwerpunkt darauf legt, die absolute Wahrheit zu finden und zu rechtfertigen und daraus eine Begründung für ein Primat der Philosophie in der Politik herleitet. Weil aber die letztlich großen Fragen der Philosophie: Was ist das Sein? Wer ist der Mensch? Welchen Sinn hat das Leben?, unbeantwortet bleiben, gehört zur Philosophie unabdingbar das Staunen.
Im Angesicht von Sokrates’ Verurteilung zum Tod durch den Schierlingsbecher zweifelt Platon zum einen an der sokratischen Überzeugungskunst, denn es war ihm nicht gelungen, die Richter von seiner Unschuld zu überzeugen (die für seine Schüler zweifelsfrei gegeben war) und er verzweifelte an der Polis, die einen so verdienstvollen Philosophen derart missverstehen konnte. Vor diesem Hintergrund ist Platons Ideenlehre und seine Politeia zu verstehen als zweifache Revolution: der philosophischen Suche nach Wahrheit und nach einem Staatssystem, dessen Basis die philosophische Wahrheit bildet. Nur der Philosoph verfügt über die Idee des Guten und nur er befasst sich mit den ewigen Dingen. Die ewige Wahrheit sollte regieren. Für Sokrates war die Maieutik, das Suchen nach Antworten über den egalitären Diskurs, die Methode, um die Bürger selbst auf Antworten zu bringen. Es war nicht sein Anliegen, Wahrheiten zu verkünden. Ein Exkurs über Aristoteles führt zur Bedeutung der Freundschaft, dargelegt in der Nikomachischen Ethik. Auch in der Freundschaft geht es nicht darum, den anderen von einer Wahrheit zu überzeugen, sondern verschiedene Wahrheiten anzuerkennen.
„Sokrates hat offenbar geglaubt, die politische Funktion des Philosophen bestehe darin, bei der Herstellung dieser gemeinsamen Welt zu helfen, die errichtet ist auf einer Art von Freundschaft, bei der keine Herrschaft notwendig ist.“ (54) Voraussetzung ist die Einsicht, dass man mit sich selbst übereinstimmen muss. Eine für alle Menschen gleiche absolute Wahrheit gibt es nicht. Deshalb ist es das Gespräch mit dem Anderen, mit dem anders Denkenden, das mich vom Zwiegespräch mit mir selbst befreit. In diesem Moment werde ich zu einem, zum mit mir selbst Identischen. Man muss seine eigene Wirklichkeit vor sich selbst bezeugen können. Das ist der Urgrund des Gewissens.
„Auch wenn dich niemand sieht, sollst du schon deshalb nicht töten, weil du dir unmöglich wünschen kannst, ständig mit einem Mörder zusammenzuleben. Durch einen Mord würde man sich auf Lebenszeit zum Zusammenleben mit einem Mörder verurteilen.“ (59) So ist auch bei Aristoteles Maßstab der Mensch der sich selbst das Maß setzt, nicht übergeordnete Ideen.
Nun soll bei Platon die Politik im Licht der philosophischen Erfahrung beurteilt werden. Das Höhlengleichnis beschreibt hierbei das Verhältnis zwischen Philosophie und Politik. Der angehende Philosoph hat entscheidende Wendepunkte zu durchlaufen: zuerst die Befreiung von den Ketten und vom eindimensionalen Blick. Dann sieht er beim Umdrehen die Dinge mit den Augen des Wissenschaftlers, doch auch damit begnügt er sich nicht. Er will wissen, was die Ursachen der Dinge sind. Er geht aus der Höhle, schaut die Sonne, die Idee der Ideen, Sinnbild für das Gute, das Wahre, das Schöne, und nun beginnt seine politische Aufgabe, eigentlich seine Tragödie: er muss in die Höhle zurück und den Menschen dort erzählen, was für sie keinen Sinn ergibt.
„Der zurückkehrende Philosoph ist in Gefahr, weil er den Verstand, der zur Orientierung in der allen gemeinsamen Alltagswelt nötig ist, verloren hat und darüber hinaus mit dem, was nun seine Gedanken beherrscht, dem Verstand der Welt offen widerspricht.“ (72/73) Wie soll er also Regierungsgeschäfte führen? Er muss nun die Maßstäbe finden, die den Höhlenbewohnern angemessen sind. Im Theaitetos beschreibt Platon: >>der Zustand, den der Philosoph am stärksten erfährt, ist das Staunen; denn es gibt keinen anderen Beginn des Philosophierens als diesen.<< (155d, Arendt S.75) Das Ziel bleibt das gemeinsame Bemühen, begleitet von der Erfahrung, dass ich nichts wissen kann.
„Würde der Mensch jemals die Fähigkeit verlieren, letzte Fragen aufzuwerfen, würde er gleichzeitig auch die Fähigkeit einbüßen, beantwortbare Fragen zu stellen. Er wäre kein fragendes Wesen mehr, und das wäre nicht nur das Ende der Philosophie, sondern auch der Wissenschaft.“ (S.78)
„Wir leben heute in einer Welt, in der nicht einmal der >>gesunde Menschenverstand<< verständlich geblieben ist. Sein Zusammenbruch zeigt an, dass Philosophie und Politik trotz ihres alten Konflikts dasselbe Schicksal erlitten haben. Und das bedeutet, dass das Problem von Philosophie und Politik beziehungsweise die Notwendigkeit einer neuen politischen Philosophie, aus der eine neue Wissenschaft der Politik hervorgehen könnte, wieder auf der Tagesordnung stehen.“ (84/85)
Nicht das Wissen, sondern das Fragen steht im Mittelpunkt einer so verstandenen Philosophie.
Deshalb: jede Antwort ist ebensogut eine möglich richtig wie möglich falsche. Aber nicht auf die Antwort kommt es an, sondern auf die Frage. Und manchmal auch auf die Suche nach der Frage. Und immer wieder Staunen.
Matthes & Seitz Berlin, 2016
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
siehe auch Hannah Arendt: Vita activa mit Link zum youtube Clip
Wiederum eine bemerkenswerte Besprechung. Auch in den Vorlesungen „Über das Böse“ diskutierte Hannah Arendt die Zwiegespräche bei Sokrates.
Beim Höhlengleichnis frage ich, welche Kraft es ist, die den Philosophen zu dieser Umkehr bewegt.
In der Politeia („Der Staat“) gibt es den „Philosophenkönigsatz“ – viel diskutiert. Im Spätwerk der Nomoi („Gesetze“) wiederholte Platon die Vorstellung einer Philosophenregentschaft nicht mehr. Im Modell der Nomoi sitzen die Philosophen in einem „nächtlichen Rat“ und betrachten die verfassungsmäßige Einhaltung der Gesetze – die ursprüngliche Idee eines Verfassungsgerichtes.
Wie schon der Untertitel anzeigt, Apologie der Pluralität, haben Sokrates und Platon noch einiges mehr anzubieten, wie auch Hannah Arendt.
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Vielen lieben Dank!
Ja, allerdings, aber wenn wir über die antiken Theorien reflektieren, sollten wir uns auch bewusst sein, dass wir dies immer mit einer großen Einschränkung tun: der Perspektive unserer Zeit.
Der Gedanke, dass Platons Politeia entstanden ist als Reaktion auf die Verurteilung des Sokrates, wie Arendt beschreibt, aus einem Bedürfnis, den Konflikt zwischen Polis und Philosophie durch die Ideenlehre zu nivellieren, war eine neue Verstehensanregung von Arendt für mich.
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Ganz herzlichen Dank für Deine wunderbare Buchbesprechung.
Was mich ganz besonders berührt und so auch beschäftigt sind die Ausführungen über die . „….Meinungen zu haben geht dann schief, wenn es um Dinge geht, die wir nur im sprachlosen Erstaunen über das, was ist, erkennen“ (S.79). Und weiter, „Für die große Menge besteht der Ausweg […], dass man sich Meinungen bildet, wo diese gar nicht angemessen sind“ (S.80). In diesem Zusammenhang finde ich folgenden Text nur grandios: „Der philosophische Schock erfasst den Menschen […] in seiner Singularität, das heißt: weder in seiner Gleichheit mit allen anderen noch in seiner absoluten Verschiedenheit von ihnen. Mitdiesem Schock wird – sozusagen- der Mensch im Singular einen flüchtigen Augenblick lang mit dem ganzen Universum konfrontiert, so wie es ihm nur im Augenblick seines Todes begegnen wird “ (S.79-80).
Wie du am Ende richtig zusammenfasst, es gilt, immer wieder Fragen zu stellen und zu staunen. Dazwischen, und das ist ein wenig aus der Mode gekommen, sollte man sich in immer wieder in Demut üben, wissend, dass man im günstigsten Fall eine Antwort auf die vielen, elementaren Fragen nur sprachlos erahnen kann.
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Vielen herzlichen Dank, lieber Ernst, für den tollen KOmmentar mit diesen schönen Textstellen! Ja, ich glaube, das ist glaube ich der zentrale Punkt in ihrer Kritik an einer durch und durch rationalisierten Welt: dass das Staunen völlig aus der Mode gekommen ist und dadurch viele Arten, mit den eigenen Fragen umzugehen, nicht mehr salonfähig sind. Und vielleicht passt so ein Taxt jetzt grad auch in diese Jahreszeit. In diesem Sinne: Frohe Feiertage!
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