Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben

Mit vorausschauender Perspektive behandelt Hannah Arendt hier die Entwicklung des Menschen in einer Gesellschaft von Arbeitstieren in diesem bereits 1967 im Piper Verlag erscheinenen Buch.  Die Tätigkeiten des animal laborans haben wenig mehr mit ursprünglichem Tätigsein im Sinne von Handeln zu tun, sondern gleichen sich immer mehr Prozessabläufen an wie der Verfeinerung von Apparaten und Sinn und Zweck sind reduziert auf Selbsterhaltung.

Aber zunächst zum titelgebenden Begriff der Vita activa: er entspringt nach Arendt dem abendländischen politischen Denken der Zeit des Sokrates und bezeichnet den Konflikt zwischen Philosoph und Polis. Im Aristotelischen Sinne bezeichnet er das politische Tätigsein. Wir erinnern uns, Arbeit oder Herstellung von etwas, war eines freien Mannes gar nicht würdig, Arbeit war verbunden mit Zwang. Die Philosophen waren sogar von der politischen Tätigkeit befreit um sich in Muse zu üben und der Kontemplation zu frönen. Dieses Denken musste in Ruhe geschehen und hatte die Ruhe zum Ziel und wird hier bei Arendt bezeichnet mit der Vita contemplativa.

Was Arendt in ihrem Buch nun verfolgt, ist die Erarbeitung der Veränderung im Verständnis der Vita activa, der weitestgehenden Eliminierung der Vita contemplativa und der damit einhergehenden Vernutzung und Reduzierung des Menschen auf das Animal laborans.

Nach Arendt verlegte Descartes den archimedischen Punkt, den Betrachterstandpunkt, weit weg vom Geschehen, in das menschliche Erkenntnisvermögen hinein. Dadurch löst sich der Mensch nach Arendt, er gehört nicht mehr zur Welt, Natur und Weltall entziehen sich, sind sinnlich und anschaulich nicht mehr vorstellbar, sondern nur noch verifizierbar. Und nun vollzieht sich auch die Umkehrung von Vita contemplative und Vita activa im Zuge dieser neuzeitlichen Entdeckungen, des archimedischen Punktes und dem cartesischen Zweifel. Es ging nun nicht mehr darum anzuschauen, zu betrachten, sondern zuzugreifen. Wahrheit erschließt sich durch Zugreifen. (Ebd., nach S.282)

Was das bedeutet zeigt sich nicht nur in den Wissenschaften, sondern vor allem in der Wertsetzung, in dem was Leben bedeutet. Nach Arendt wird Sein nur noch als Prozess erfahren. Ein Wesen des Seins wird nicht mehr gesucht, die klassische Ontologie hat aufgegeben.

Die Philosophie begann bei Platon und Aristoteles mit Staunen und ist heute von einem Pragmatismus durchsetzt, der den Menschen allein als von seinen Interessen motiviert betrachtet.
Der Sieg des Animal laborans hat nicht nur mit Glaubensverlust, mit Verweltlichung zu tun. Der moderne Mensch kann sich ja nicht einmal der existierenden Welt sicher sein.

Was Hannah Arendt weiter entwickelt ist eine Dystopie der Leistungsgesellschaft, in der die individuelle Entscheidung nur noch darin bestehen kann, Individualität möglichst aufzugeben um noch besser funktionieren zu können. Sie sieht den modernen Menschen zur geistigen Passivität verdammt.

„In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, …“ (Ebd., S.314)

Und dabei wären doch all diese Entwicklungen von einem archimedischen Standpunkt aus betrachtet nichts weiter als Mutationen (nach Ebd., S.315) Nach wie vor müsste sich das philosophische Denken eigentlich darauf konzentrieren, was jenseits der vergänglichen Mutationen bleibt. Womit wir wieder auf Platon zurückgeworfen wären. Hannah Arendt bezeichnet als die Tätigste aller Tätigkeiten das Denken und endigt ihre Vita activa mit einem Zitat aus dem Cato:

„Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.“ (Ebd., S.317)

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Sie macht aber eine wichtige Einschränkung: Immer ist Leben, ist Denken an empirische Bedingungen geknüpft; das tätige Denken ist nur dort möglich, wo Menschen unter den Bedingungen politischer Freiheit leben.

Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Neuausgabe 1981, 4. Auflage 1985

4 Kommentare zu „Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben

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  1. Kompliment zu dieser Besprechung. Beim Nachsehen finde ich das Buch unter einem Stapel auf dem Nachttisch. Angestrichen hatte ich eine Stelle aus dem 2. Kapitel, 4. Abschnitt „Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten“:
    „… weil die griechische Lebensform sich dadurch auszeichnete, daß sie vom Reden bestimmt war und daß das zentrale Anliegen der Bürger das Miteinander-Sprechen war.“
    (Ausgabe W. Kohlhammer, Stuttgart 1960, Seite 30).
    Ja, dieses Buch passt ins Fenster.

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    1. Vielen Dank! Bin in der Vorbereitung auf ein Philosophieseminar wieder auf Arendt gestoßen und fand das sehr beeindruckend und auch frappierend, wie vieles, von dem was sie anführt, sich heute noch stärker bestätigt als vor 50 Jahren. In der Philosophie eine Klassikerin des 20. Jahrhunderts.

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  2. In der Politischen Wissenschaft, Abteilung Politische Theorie und Ideengeschichte, gilt Hannah Arendt zusammen mit Eric Voegelin und Leo Strauss als politische Denkerin des 20. Jahrhunderts. Da waren die „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ und vielfältige Essays „Zur Zeit“. Ihre Beobachtung zum Eichmann-Prozess mündeten in das Buch „Eichmann in Jerusalem“ und regten Debatten an, die auch der Film von Margarethe von Trotta sehr anschaulich nachvollzieht – einschließlich der Begegnung und Auseinandersetzung mit Martin Heidegger. Die Vorlesungen „Über das Böse“ lasen wir in der Philosophie-Gruppe. Gerne möchte ich mir die „Vita contemplativa“ und das Buch über Augustinus vornehmen und wünsche mir die Muße dazu. Einfach: Anfangen …
    Gute Wünsche zum Seminar und zu den Feiertagen.

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