„Die Religion erweckt möglicherweise die Liebe zu Gott,
doch nichts führt stärker dazu als sie,
den Menschen zu verachten und die Menschheit zu hassen.“
Boualem Sansal, Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2010 hat damals mit seiner Geschichte „Das Dorf des Deutschen“ einen Nerv der Zeit getroffen. Zwei Brüder mit francoalgerischer Herkunft in den Pariser Banlieues entwickeln sich vollkommen unterschiedlich, einer von beiden radikalisiert sich während der andere entsetzt die Mechanismen von Ideologisierung und Entmenschlichung zu analysieren versucht.
Boualem Sansal schrieb zu dieser Zeit, er träume von einem Algerien, in dem man in Freiheit leben könne. Nun ist sein aktueller Roman „2084 – Das Ende der Welt“ eine in die Zukunft verlegte Überzeichnung der schlimmsten Ängste, die man in Verbindung mit Ideologie und Entmenschlichung fantasieren kann. Ein Land, genannt Abistan, ist so vollkommen von der Außenwelt abgeschottet, dass seine Bewohner glauben, es gäbe nur ihr Land und jenseits seiner Grenzen würde die Welt aufhören. Es wird beherrscht von religiösen Ideologen. Kritiker haben schon darauf hingewiesen, dass Abi, der Entsandte, den niemand zu Gesicht bekommt, möglicherweise als Charakter Anleihen nimmt beim immer unsichtbaren Militärführer Algeriens Abd al-Aziz Bouteflika.
Womit die Verbindung zum Regime hergestellt wäre. Die religiöse Ideologie in Sansals Roman bedient sich zu ihrer Durchsetzung nichts anderem als militärdiktatorischer Mittel. Angst, Denunziation, Gewalt, das Verschwinden von Menschen sind an der Tagesordnung, und trotzdem hält sich die Botschaft, dass die Menschen im Einvernehmen mit ihrem Glauben und ihrem Herrschaftssystem leben.
Natürlich, George Orwells 1984 gibt eine Struktur vor. Und das eigentlich Bedenkliche ist ja wohl, dass selbst nach erfolgter Analyse solcher Strukturen und Aufdeckung ihrer Unmenschlichkeit, nicht weinige sich freiwillig in solche Strukturen begeben. In der harmloseren aber auch schon verächtlichen Form in einer Fernsehsendung (Big Brother), aber vor allem überall, wo Menschen im Glaubenskrieg bereit sind, ihr eigenes Leben und das von anderen zu opfern.
Es gibt einen Helden in Sansals Roman, Ati. Während eines „Kuraufenthalts“, in dem die Kranken dieses Landes abseits ihrer sozialen Kontakte verwahrlost dahinsiechen, hat er an der Schwelle zum Tod eine Art Erleuchtung: er hat eine Vision dessen, was Freiheit bedeuten kann, wenn es gelingt, über die gesetzten Schranken im Kopf hinauszublicken. Von da an versucht er, über Recherche der Geschichte des Landes, über unerlaubtes Reisen und Forschen in Archiven, herauszufinden, ob Abistan tatsächlich zeitlich und räumlich begrenzt ist. Denn das ist die Basis für die gelingende Manipulation in Abistan: das verfügbare Wissen erzählt, dass die Grenzen dieses Landes die Grenzen der Welt sind und dass es in der Geschichte Abistans niemals etwas anderes gab, als das Leben unter dem herrschenden religiösen Dogma. Jeder, der es wagt, etwas anderes auch nur zu denken, wird zum Staatsfeind Nummer eins. Denn in der Idee des Anderen liegt die Möglichkeit zur Freiheit.
Ati kann auf seinen riskanten Exkursionen dem Auge der Hüter natürlich nicht entkommen. Im erzwungenen Kontakt wird klar, dass eine Elite das Land beherrscht, die sehr wohl einen anderen Überblick hat, die sogar zum Teil Lebensweisen anderer Länder und anderer Zeiten nachahmt. Dennoch versuchen sie, die Domestikation des Volkes vor Ati zu rechtfertigen. Ihr einziges Interesse scheint darin zu liegen, Machtintrigen untereinander zu spinnen und ihre persönlichen Privilegien zu schützen. Ob der Held am Ende mit ihrer Hilfe tatsächlich das Land verlassen kann, weil er ihnen im Land zu gefährlich wird, selbst wenn sie ihn verschwinden lassen, oder ob sie ihn auch hier nur für ihre Zwecke einspannen – letzteres ist wahrscheinlicher.
Die Ohnmacht des Ungebildeten, die Manipulierbarkeit durch fehlende Perspektiven, die absolute Verblendung und die Verbindung von Ideologie und militärdiktatorischen Machtstrukturen waren für mich die zentralen Leseeindrücke.
Ein in die Zukunft verlegter Roman ist natürlich immer ein Risiko. Es muss mit beinahe kleinlicher Naivität ein Szenario einer Welt entwickelt werden, die wir ja noch nicht kennen. Es ist etwas mühsam, sich in diese Welt hineinzulesen und die vielen fremd klingenden Namen machen es nicht immer leicht, zu folgen. Nach dem ersten Drittel nimmt die Handlung Fahrt auf und die offensichtlichen wie auch die subtileren Folgen einer ideologiegesteuerten Diktatur werden erschreckend realistisch nachempfunden. Hier bietet das Buch eine ganze Menge an Bezügen und, weil man sich hier, wo Ati versucht, an das Wissen der Vergangenheit heranzukommen, näher an einem vorstellbaren Szenario, ist es mit großer Spannung zu lesen.
Ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman der Académie francaise.
Übersetzt ins Deutsche von Vincent von Wromblewsky
Merlin Verlag, Gifkendorf 2016
Übrigens:
Iris Radisch hat in der Zeit ein Interview veröffentlicht. Man erfährt von ihr keine Meinung zum Roman, dafür zeigt sie im Interview, dass auch der Kampf gegen Ideologie durchaus mit Vereinfachung und Vereinheitlichung arbeitet und so zweischneidig sein kann. Sansal äußert sich als beinahe radikal zu bezeichnender Antiislamist. Er hat einen Essay über die Welteroberungspläne des Islam geschrieben, in dem er Europa die politische Korrektheit im Umgang mit dem Islam zum Vorwurf macht. Im Interview mit Radisch bekräftigt er:
„Die Islamisten deuten die Toleranz der Kanzlerin als Eingeständnis des Scheiterns. Wenn ich Islamist wäre, würde ich morgen in Deutschland eine Partei der Muslimbruderschaft gründen.“
Interview Iris Radisch mit Boualem Sansal
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