Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

Eine Frage drängt sich auf: Warum ist da nicht schon längst jemand darauf gekommen und mit welchem Buch könnte man das noch machen? Einer Figur, die als Statist mit Schlüsselfunktion keine eigene Identität bekommen hat, ein Gesicht geben, eine Geschichte auf den Leib schreiben.

„Der Araber“ in Camus’ „Der Fremde“ bekommt in Daouds Erzählung endlich sein Gesicht, bekommt seine eigene Geschichte. Dabei spiegelt Daoud in vielen Passagen die Gedankengänge Camus’, er nimmt sie auf, zerlegt und erklärt sie – im Unterschied zu Camus – entstellt sie aber auch. Und natürlich werden aus der besonderen Perspektive des kolonialisierten, des besetzten Arabers ganz andere Fragen existentiell.

„Es ist ganz einfach: Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden, in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links.“

9783462047981

Kamel Daoud Der Fall Meursault lässt zunächst einmal an eine Abrechnung denken: der Franzose, der berühmt wurde mit einer Geschichte, in der ein anonymisierter Araber umgebracht wird, gelangt zu Weltruhm und das Verwerfliche an der Geschichte ist, dass es eigentlich gar nicht um den getöteten Araber geht, sondern nur um das um sich selbst Kreisen des Protagonisten, und verurteilt wird er schließlich mehr wegen seiner Fühllosigkeit der eigenen Mutter gegenüber, als wegen des Mordes.

Hier endlich einmal eine Gegendarstellung zu entwerfen, bietet sich an. Als Abrechnung kann es erst mal erscheinen, weil die Kolonialisierungsgeschichte über einhundert Jahre tiefe Spuren eingegraben hat und ihre Folgen im Bewusstsein der „Araber“ natürlich eine vordergründige Rolle spielen. Auch fünfzig Jahre nach Ende der Besatzung ist die Besetzung in den Köpfen nicht vorbei, nur Teil der Geschichte.

Und um die politischen Verhältnisse und das, was sich in den Köpfen manifestiert an Vorstellungen von Über- und Unterordnung, von Befreiung, von Wertung, von Freundschaft, Feindschaft und Rache, um all dem einen Rahmen geben zu können, verfällt Daoud auf einen genialen Trick: er tut so, als wäre in Der Fremde der Autor identisch mit seinem Protagonisten! Damit nicht genug: Er gibt der Romangeschichte den Anschein, als wäre sie tatsächlich passiert! Er macht aus der literarischen Begebenheit eine wahre Geschichte. Nur so kann er einen – literarischen – Gegenentwurf gestalten, in dem seine Figur handelt als Reaktion auf etwas, das für sie tatsächlich geschehen ist.

Es ist eine doppelt fiktionale Ebene, die den Leser herausfordert.

Es sitzt also ein älterer Mann, wir stellen ihn uns als etwa siebzigjährig vor, allabendlich in einer Bar, in der er eines Abends einem jungen Mann begegnet, mit Camus’ Erzählung unter dem Arm. Ein Literaturwissenschaftler, der angeblich nach dem Grab von Camus’ totem Araber sucht. Auch hier wieder das Ineinanderschieben von fiktiver und für die Fiktion realisierter Ebene. Im anhaltenden Monolog über mehrere Abende (siehe Camus Der Fall, in identischer Form geschrieben) erzählt der Araber die Geschichte seines vor fünfzig Jahren ermordeten Bruders, der seither immer wieder in dieser Geschichte stirbt, immer mittags um vierzehn Uhr, ohne je einen Namen bekommen zu haben, ohne dass man je seine Leiche gefunden hat. Und er erzählt, was diese Tat aus seinem Leben, aus dem Leben seiner Mutter und ihrer gemeinsamen Zukunft gemacht hat. Und wie er selbst zum Täter wurde. An einem Franzosen. In dem Wunsch, das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Natürlich tut jede Geschichte so, als wäre sie eine Realität. Aber da wir es hier mit einer privatisierten Politisierung zu tun haben, fällt man als Leser mit Kenntnis der politischen Verhältnisse andauernd darauf herein, die Fiktion ebenso als ein Ereignis zu nehmen, wie die Politik.

Der Tenor des Buches geht dahin, dass man als Leser auch noch ein schlechtes Gewissen bekommt – für die Zukunft allen Figuren gegenüber, die in Geschichten kein Gesicht bekommen haben. Eine Sensibilität jedweder Art von Diskriminierung gegenüber macht nun das literarische Spiel mit der Gewichtung von Charakteren zu einer Schuld. Das, was der Grund ist für den Erzähler, ist auch seine Begründung: die Parteinahme für das eigentliche Opfer. Diese Begründung funktioniert aber nur im Figurenroman, wenn die Erzählung hauptsächlich auf die Charaktere und auf die Entwicklung der Figuren abhebt. Camus Roman – und das ist der Unterschied zu Daoud – ist aber auf einer abstrakteren Ebene als eine existentialistische Geschichte zu lesen, die unabhängig von Ort und Zeit und eben auch von den Charakteren grundlegende Fragen zur Absurdität stellt. Ist das Leben, eben weil man ihm Sinn geben möchte, voller Leid und Elend? Oder sind Leid und Elend die Ursache für alle Sinnlosigkeit im Leben?

Deshalb ist eben das Buch von Kamel Daoud in erster Linie eine politische Geschichte und ist ein Vexierspiel mit Camus’ Roman. Camus aber bleibt der Autor der Philosophie des Absurden.

Übrigens: Die Nachfahren Camus’ haben es untersagt, die Stücke nach Camus und Daoud am Theater nacheinander zu spielen, eben mit der Begründung, das eine sei ein politisches Stück, das andere ein philosophisches.

Fazit: An der Schnittstelle der existentiellen Grundfragen unterstellt der Autor Daoud dem Autor Camus manchmal absurde Motive. Und genau deshalb ist das Buch doppelt lesenswert, denn auch abstrakte philosophische Begriffe wie Existentialismus und Absurdität sind in ihrer Deutung von einer Perspektive abhängig und das wird durch die Parallelsetzung dieser beiden Erzählungen besonders augenfällig.

Zu Inhaltsangabe und Inhaltsbesprechung eine Blogempfehlung:

Das graue Sofa- Der Fall Meursault

Zu Material und Diskussionsfragen:

Mein Literaturkreis – Der Fall Meursault

Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung
Kiepenheuer & Witsch, 2016

2 Kommentare zu „Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

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  1. Auszug aus einem Interview mit Kamel Daoud und J. Simons (Intendant der Ruhrtriennale 2016) in der Süddeutschen Zeitung vom 02.09.2016:
    SZ: Sie haben einen Gegenentwurf zu Camus‘ Roman „Der Fremde“ geschrieben. Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Buch gekommen und warum habt Ihr das jetzt als Theaterstück inszeniert?
    Daoud: Ich dachte immer schon, dass irgendwann ein Algerier eine Antwort darauf schreiben muss, dass da ein Algerier am Strand abgeknallt wird und immer nur „ein Araber“ ist, ohne Geschichte, ohne Namen. […..] Als dann ein französischer Journalist auf den Spuren Camus‘ nach Oran kam, um mit mir über Camus zu sprechen, ließ er permanent durchblicken, dass das „sein“ Autor sei: Der ist Franzose, ihr Algerier versteht den nicht. […..]
    Simons: Da kommt diese Schriftsteller und sagt: Ich schreibe 50 Jahre später eine neue Version von Camus‘ Roman. Er macht aber viel mehr: Er kommt von seinem kolonialgeschichtlichen Monolog zu einer kritischen Abrechnung mit dem Islam (Anmerk.:Daoud kritisiert u.a. die Rolle der Frau in der muslimischen Welt). Zugleich ist es in meinen Augen ein hervorragender Kommentar zur Flüchtlingskrise.

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