Feridun Zaimoglu: „Siebentürmeviertel“

Kiepenheuer & Witsch, 2015

Siebentürmeviertel, in einem Stadtteil Istanbuls angesiedelt, beginnend im Jahr 1939, ist ein Roman über Heimat und Fremde, über eine Selbstdefinition vor dem Hintergrund zweier Kulturkreise. Ein kleiner deutscher Junge, Wolf, mit seinem Vater vor dem Hitlerregime in die Türkei geflohen, nimmt uns mit auf eine Reise in ein archaisches türkisches Milieu, in dem die Menschen sich zurechtfinden müssen zwischen Mythen, Aberglauben, sozialen Gruppenzugehörigkeiten und den damit verbundenen Rivalitäten. Der heranwachsende Wolf übernimmt die Ordnungssysteme, in denen er aufwächst. Von seinem deutschen Vater verlassen, wird die türkische Familie, die sich seiner annimmt und in der er die wichtigen Entwicklungsphasen seiner Pubertät erlebt, zu seiner echten Familie.

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Scheinbar trägt er selbst dabei weniger innere Konflikte aus, als seine Umwelt ihm durch ihre Rektionen auf sein Deutschsein und die damit verbundene Irritationen spiegelt. Er bewegt sich selbstsicher in der identitätsstiftenden Gruppe der „großen Brüder“, einer Verbindung junger Heranwachsender, und ist stolz auf seine Narben, die er aus den Initiationsriten davonträgt.

Nur von seinem Umfeld wird er immer wieder daran erinnert, dass er sich als „Hitlersohn“ gleichsam einer Anmaßung schuldig macht, wenn er sich mit den türkischen Gepflogenheiten ganz und gar identifiziert.

Man taucht als Leser ein in eine phantastische Welt eines im Vergleich zu anderen Stadtteilen zurückgebliebenen Milieus, in dem Hierarchien die Stellung des Einzelnen und seinen Handlungsraum bestimmen. Für Wolf wird dieses Ordnungsgefüge zu seinem ihn beheimatenden Ort – an dem er auch bleibt, als sein Vater einige Jahre nach dem Krieg mit ihm nach Deutschland zurückkehren möchte.

Zaimoglu macht es seinen Lesern nicht leicht, dem Storyplot zu folgen. Ein großer Anteil an Dialogen fordert die Aufmerksamkeit des Lesers heraus, man wird in irritierende Situationen hineingeworfen. Es ist weder ein Handlungsroman, noch ein Figurenroman, sondern ein Raumroman. Der dichterisch epische Raum stellt das Bild, der geistige Wirkungsraum schafft die Atmosphäre. Der erlebte Raum wird zum psychologisch bestimmenden Faktor für die Verhaltensweisen der Figuren. Der Leser bleibt gewissermaßen der Fremde in diesem Raum.

99 Namen Allahs überschreiben die Kapitel, in denen das Leben im Armeleuteviertel, das auch Flüchtlinge vom Balkan beheimatet, lebendig wird.

Siebentürmeviertel ist eine Einladung, einzutauchen in eine andere Wahrnehmungswelt, sich einzulassen in die Eigenarten eines anderen Gefüges des Zusammenlebens. Folgen wir seiner Einladung in einen Mikrokosmos, der nicht als historische Erzählung ein realistisches Bild abgeben will, sondern eine Wahrnehmungswelt zeichnet, in der die archaischen Sitten der Sippe, eine anatolische Frömmigkeit und Wolfs christliche Prägung in seiner Selbstdefinition zu einer Verbindung kommen.

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