Sasa Stanisic: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

Vor Jahren durften wir ihn hier in Isny live erleben, diesen sympathischen Autor, dessen Besonderheit darin besteht, der Welt, dem Leben, seinen Figuren mit eben dieser Sympathie und Zuneigung zu begegnen, dass man als Leser*in gar nicht anders kann, als sie alle ins Herz zu schließen mit all ihren Eigenarten. Die zwölf Geschichten, deren Zusammenhang sich erst im letzten Kapitel erschließt – weshalb es sich empfiehlt, der Reihe nach zu lesen – beginnen mit einem Gedankenexperiment. Was, wenn man einen „Anproberaum“ für die Zukunft, für künftige Erlebnisse, erfinden könnte und Menschen könnten schon mal testen, könnten ihr zukünftiges Ich für einen Moment anprobieren? Auf diese Idee kommen die vier Jugendlichen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen, die in einem Brennpunktviertel leben und die sich die Zukunft nicht leisten können.
Manche Geschichten handeln im Kern von der Familie, oder von der Liebe, von der Freundschaft oder davon, wie ein Autor zum Schriftsteller wird. Ob Heinrich Heine oder Heinrich Kleist, die Gaststätte „Krug“ fördert jedenfalls vielerlei Assoziationen.

„Wer auch immer das bescheuerte Schild gestohlen hat, wird mir immer ähnlicher, dachte ich während der ersten Lektüre. Und dass das Ganze aber hoffentlich nicht so eine Doppelgänger-Geschichte sei. Ich wollte auf keinen Fall einen Doppelgänger haben, es war schlimm genug eine Figur zu sein.“
S.109

Einige der Geschichten warten mit interessanten Perspektiven auf. Ein kleiner Disput mit Chat GPT gehört als Autor hier auch dazu und verleiht der vergangenheitsträchtigen Geschichte um die Gaststätte „Krug“ die leichte Note, wie auch die Personenbeschreibung der Wirtin mit diesem witzelnden Ton und ein bisschen Selbstironie:

„Wie sie selbst hinter dem Tresen aufragte, ein Fels mit der Aufschrift Master of Puppets (Metallica-Album, Anm. d. Verf.) auf dem T-Shirt in der Brandung aus Kippenrauch, das Gesicht von Falten durchzogen wie vom Seegras der Strand.
Wie sie mich zu solchen Vergleichen nötigt.“
S.98/99

Wie sich die Figuren mit Respekt begegnen, wie sie einander ihre Geschichten glauben und wie sie alle wissen, dass jedes menschliche Leben eine Erzählung ist und davon abhängig, wie man sich selbst und wie die anderen einem die eigene Lebensgeschichte glauben, das schafft eine heimelige Atmosphäre des unausgesprochenen Einverständnisses. In dieser Atmosphäre möchte man gerne noch ein wenig verweilen. Die kleinen Dinge haben die große Bedeutung.

„Zum Doppelkopf triffst du dich, weil Du beim Doppelkopf nicht spürst, dass die Zeit existiert. Anders als auf der Arbeit oder nach dem Aufwachen oder beim Frisör. Beim Doppelkopf spürst du weder das harte Tuch, aus dem die Vergangenheit gewebt ist, noch hörst du die Sorgen aus der Zukunft deinen Namen rufen.“
S.126

Und solche Bücher liest man mit dem größten Genuss, weil man da eben auch nicht spürt, dass die Zeit existiert.
Der Titel: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ könnte passender nicht sein. Alltagsgesten, Verständigungen ohne Worte und die Bereitschaft, den anderen zu sehen, das charakterisiert Stanisics Figuren

„Die Idee mit der Gießkanne gefiel ihr deswegen: Weil sie die Angesprochene wäre und den Zeitpunkt und Ort sogar selbst bestimmte: Friedhof, heute. (…)
Es musste nicht alles sein wie mit Hermann! Könnte es auch nicht. Fünfzig Jahre plus mit jemandem zusammen, das machst du keine zwei Mal, das wäre, rein vom Verwaltungsaufwand, der reinste Franz Kafka.“
S.163

Und schon schießen die Assoziations-Synapsen wieder: Der Prozess, Das Schloss, Das Urteil – und das ohne das ganze Grauen, sondern mit Freude und Neugier.

Manche der Geschichten sind Lügengeschichten, manche Vergangenheitsgeschichten und manche Zukunftsträume. Oder der Weg zum Schriftsteller. Absolut liebenswert!

Sasa Stanisic: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Pinguin Randomhouse Verlagsgruppe, München 2024

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