„Ganz klar der Ozean.“ Das ist das Zentrum der Geschichte, Anfang und Ende, Mittelpunkt und Basis eines Romans um die große Freundschaft, die große Liebe, die Leidenschaft der Berufung und die Sehnsucht nach Weltgestaltung. Dabei spielen KI und Soziale Medien eine bedeutende Rolle. Die unerforschte Tiefsee und die unerforschte Reichweite der künstlichen Intelligenz in Analogie zu setzen, ist einer der cleveren Schachzüge dieses Romans.
Alles scheint eine größere Reichweite und mehr Zusammenhänge zu haben, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Die Fäden laufen zusammen auf einer Insel, auf Makatea, einer zu französisch-Polynesien gehörenden Koralleninsel, einst ein Naturatoll, dann eine zeitlang während des vergangenen Jahrhunderts geprägt von Gastarbeitern, Gruben und Industrie, um 60 Jahre lang Phosphat abzubauen. Nun wieder ein Naturparadies und Heimat für weniger als hundert Menschen.
„Die Menschheitsgraphen bogen sich in die Höhe wie Hockeyschläger, und dazu brauchten sie Phosphat. Makatea half dem Homo Sapiens, die Erde zu unterwerfen und wurde dabei selbst verschlungen.“
S.46
Makatea ist der Ort, der im Zentrum der Erzählung steht, und die Freundschaft zwischen Rafi Young und Todd Keane, die von ihrer Herkunft her unterschiedlicher nicht sein könnten, ist der soziale Ausgangspunkt für ein riesiges Gedankenexperiment. Der elfjährige zukünftige Computernerd Todd entdeckt zuerst seine Liebe zum Meer und dann zur Technik. Er versucht mithilfe seines ersten PCs das geheimnisvolle Lied, oder den geheimnisvollen Tanz des Tintenfisches zu entschlüsseln.
Seine erste große Liebe ist die Autorin des Buches „Ganz klar der Ozean“. Sie erzählt vom tanzenden Tintenfisch, eine der schönsten Szenen der Unterwasserwelt. Die Beschreibungen mit ihr auf Tauchgang verändern wirklich den Blick auf den Ozean und auf die Vielfalt des darin zum größten Teil noch Unentdeckten.
„In der betriebsamen Putzstation unter ihr – Evie nannte sie das Makatea Spa – tummelten sich mehr Arbeitskräfte und mehr Kundschaft als in jedem gutbesuchten Schönheitssalon. Putzgarnelen und Lippfische entfernten Parasiten, während im Empfangsbereich der Einrichtung, einer Mischung aus OP-Saal, Zahnarztpraxis und Kurklinik, Dutzende Patienten geduldig warteten. Wie ein Schwarm aus so vielen unterschiedlichen Arten es schaffte, eine Zweckgemeinschaft zu bilden, wusste Evie trotz ihrer lebenslangen Forschungen bis heute nicht.“
S.79
Es ist ein großes Phantasiegebilde, dieses Buch, aufgebaut wie das Spiel, das die beiden Freunde in ihren jungen Jahren Nacht um Nacht spielen: das chinesische Go. Einfach in den Regeln, für den Kenner komplexer als Schach und endlos gestaltbar.
„>>Eine Spielwährung. Playbucks!<<
Das Wort war wie der Startschuss zu einer der besten Unterhaltungen, die wir je geführt hatten. Zwei Stunden lang erfanden und verwarfen wir; wir fielen dem anderen ins Wort oder beendeten seinen Satz. Wir skizzierten Entwürfe auf Servietten und malten Konzepte in die Luft. Wir riefen, übertönten und verlachten einander, und jede Idee führte zu zwei neuen.“
S.342
Und wohin führt die Reise mit diesem phänomenalen Gestaltungswillen? Bis zur Überwindung des Todes? Dieser eigenartige Russe, Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow mit seiner über hundert Jahre alten Idee der erreichbaren Unsterblichkeit, taucht nun für mich zum dritten Mal in kurzer Zeit in einem Roman auf: „Zeit der Wölfe“ und „Die geheimste Erinnerung der Menschen“. Hier ist es die KI, die dieser letzten Grenzüberschreitung am nächsten kommt.
“ Und hier bist du nun, Kind meiner Spiele. Du kannst mit all diesen Geschichten spielen. Du kannst sie speichern, neu gestalten und umsetzen. Hier sind wir nun, du und ich, gemeinsam auf der Schwelle zu einer Zukunft, in der die Toten auferstehen werden.“
S.369
Was existiert und nicht existiert wird zu einer relativen Interpretation. Die Grenzen verschieben sich täglich, die Möglichkeiten dehnen sich aus ins Unermessliche. Wie der Ozean, wie das Leben, wie die virtuelle Welt. Ob am Ende die Lebenden und die Toten auf einer Insel oder im virtuellen Raum zusammenkommen – es ist von nachrangiger Bedeutung.
Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar
Richard Powers: Das grosse Spiel
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Penguin Verlag, Randomhouse, München 2024
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