Fjodor M. Dostojewski: Schuld und Sühne

Letztes Jahr liebte ich „Die Brüder Karamasow“, den letzten der fünf großen Roman Dostojewskis, und dieses Jahr bin ich in „Schuld und Sühne“ versunken, eigentlich der erste seiner Romanreihe. Er spielt zur selben Zeit wie „Die Brüder Karamasow“, um 1865 herum im alten Russland, er ist Gesellschaftskritik, Europakritik, Kritik des modernen Lebens und vieles andere und er bedient sich auch dieses besonderen Stilmittels, die menschliche Psyche unter ein Mikroskop zu legen, sie zu sezieren und durch das Anhalten der Zeit in all ihren Nuancen und Widersprüchlichkeiten zu zeichnen. Es vergehen nur acht Tage in diesem Roman und die ersten Tage, in denen der Protagonist Raskolnikow mit sich hadert und dauernd auf Messers Schneide tanzt, diese ersten Tage waren für mich eine Herausforderung in der Lektüre. Beinahe war ich versucht, das Buch wegzulegen. Das erste sind die fürchterlich verzweifelten Lebensumstände, die Raskolnikow dazu treiben, über den Mord an einer Wucherin nachzudenken, bei der er schon mehrere Dinge für wenig Geld versetzt hat. Das zweite, was beinahe nicht auszuhalten ist, ist seine Somatisierung der Selbstzweifel und der Verzweiflung am Leben.

Raskolnikow ist fast die ganze Zeit des Romans in einem furchtbar desolaten Zustand, sowohl existentiell, als auch gesundheitlich und moralisch.
Er versucht, die Tat zu rechtfertigen, oder sogar als notwendig herzuleiten, indem er tatsächlich für sich behauptet – und das früher schon in einem Artikel beschrieben hat – dass es Menschen gibt, die zugunsten ihrer höheren Ziel für die Gesellschaft nicht auf dieselbe Art beurteilt und gerichtet werden dürfen, wie die gemeinen Menschen.

„Da sind hundert, tausend Existenzen, die vielleicht auf den richtigen Weg gebracht, Dutzende von Familien, die vor dem Elend, der Zersetzung, dem Untergang, dem Laster, der Syphilisabteilung eines Krankenhauses gerettet werden könnten – und all das mit dem Geld dieses Weibes! Bring sie um und nimm ihr Geld, und dann widme dich mit dessen Hilfe dem Ziel, der gesamten Menschheit und der gemeinsamen Sache zu dienen – „
S. 86/87

Eine moralische Haltung, die er selbst nicht durchhält.
Der Kommentator Horst-Jürgen Gerigk, der über diesen Roman abschließend sagt:


„Zweifellos hat sich Schuld und Sühne“ bislang als das einflußreichste Werk der russischen Literatur erwiesen.“
S. 735

sieht in Raskolnikows Rechtfertigungsversuchen Anleihen bei Kants Kategorischem Imperativ. Die Tat wäre dann zu rechtfertigen, wenn man wollen könnte, dass die ihr zugrundeliegende Haltung zum allgemeinen Naturgesetz werde. Und in diese Richtung zielen Raskolnikows Erklärungen. Die großen Helden der Menschheitsgeschichte – besonders Napoleon hat es ihm angetan – müssten schon immer einzelne Opfer bringen, um den weiteren Verlauf der Geschichte voranzutreiben. Nun ist aber die Crux daran, dass genau diese Helden eines neuen, erstarkenden Europas, von Raskolnikow nicht wirklich bewundert werden können, denn eigentlich sind ihm die Auswüchse der Moderne zuwider und ein Festhalten an alten Werten und Normen, an einer traditionelleren russischen Lebensweise, erscheint ihm anstrebenswerter.

Er vertraut sich Sonja an, in dem verzweifelten Versuch, sich zu erklären:
„Damals hatte ich einen Gedanken – zum ersten mal in meinem Leben einen Gedanken, den vor mir noch nie jemand gedacht hatte! niemand! -, und mir war plötzlich sonnenklar: Warum hat bis heute noch keiner gewagt und wagt es auch jetzt noch nicht, wenn er all diesen Irrsinn mit ansieht, den ganzen Kram schlicht und einfach beim Schwanz zu packen und zum Teufel zu jagen? Ich … ich wollte mir Mut machen zu diesem Wagnis, und deshalb mordete ich … Ich wollte mir nur Mut machen, Sonja, das war der ganze Grund!“
S.534/35

Damit offenbart er das Scheitern seiner eigenen ehemaligen Argumentation, welche die Tat rechtfertigte unter der Voraussetzung, dass er in Zukunft daraus etwas Gutes, etwas Großes für die Menschheit ableiten könne.
Dementsprechend ist es am Ende dann auch die uneigennützige Liebe der unschuldig in einen zweifelhaften Ruf gekommenen Sonja, die ihn rettet. Er stellt sich dem irdischen Gericht, nachdem er alle Möglichkeiten wieder und wieder durchdacht hat, alles ausagiert hat.


„Aggression und Zerknirschung werden exhibitionistisch gefeiert.“
S.734

Und Sonja weiß, er wird es nur durchstehen, wenn sie ihm folgt und in der Nähe des sibirischen Gefangenenlagers bleibt. Am Ende lösen sich alle Verknotungen und Verstrickungen auf und es bleibt nur ein reuiger Mörder, dessen sämtliche Rechtfertigungsversuche als Darlegung eines größeren Plans gescheitert sind. Er ist ein Mörder, und sonst nichts. Damit nun leben und an eine Zukunft denken zu können, das ist Sonjas Verdienst.

Fjodor M. Dostojewski: Schuld und Sühne
dtv-Dünndruck-Ausgabe, München, 1977

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