Karl Ove Knausgard: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit

Ein Bildungsroman, ein Liebes – und Ideenroman, über das Zeitgebundene und über das Ewige und Unveränderliche – so wird dieser Roman auf dem Klappentext beschrieben. 1050 Seiten stark ist das Werk, dem ich nicht immer mit der versprochenen Spannung folgen konnte. Es gab schon andere Knausgard Bücher, in denen kein Satz zu viel, keine Seite überflüssig gewesen wäre. Das empfinde ich hier nicht so.
Die Entwicklungsstränge einiger, völlig unterschiedlicher Figuren werden zunächst getrennt voneinander beschrieben. Der junge Syvert kommt nach seinem Militärdienst im Jahr 1986 nach Hause zurück und versucht, sich die Vergangenheit seines vor zehn Jahren durch einen Unfall verstorbenen Vaters zu erschließen und damit seiner eigenen Lebensgeschichte ein wenig näher zu kommen. Dabei stößt er auf eine ihm bis dahin verborgene Liebesgeschichte mit einer unbekannten russischen Frau. Dieser Teil umfasst nahezu die Hälfte des Buches und ist – zumal Syvert eher durch Ödnis gekennzeichnet ist, als durch Lebendigkeit, ein ziemlich langer Strang der Beschreibung des Verlorenseins.

Im zweiten Teil findet sich eine wesentlich interessantere Beschreibung der Umstände und der persönlichen Entscheidungen der Tochter dieser russischen Frau. Hier entfaltet sich ein Netz aus Wissenschaft und familiären Beziehungen und damit zusammenhängenden Entscheidungen, das man durchaus mit der Wissenschaft von den Pilzen, der Mykologie, vergleichen kann. Der größte Teil der Pilze existiert unter der Erde, vor unseren Augen verborgen. Ein großes Geflecht ist verbunden mit den Pflanzen ringsum, warum man bestimmte Pilze in der Nähe bestimmter Bäume findet. Sie stehen in Abhängigkeitsbeziehungen zueinander. Die Verhältnismäßigkeit dessen, was wir über der Erde von den Pilzen sehen – eigentlich nur ihre Geschlechtsorgane – und dem, was unter der Erde wirkt, könnte man vergleichen mit dem Verhältnis des menschlichen Bewussten zum Unbewussten. Mindestens 80 % befinden sich unter der bewussten Oberflache. Und unser Wissen um die Geschichten unserer Nächsten kennzeichnet dasselbe Verhältnis.

„Vater hatte Angst gehabt und war deswegen irgendwann ein ganzes Jahr lang krank geschrieben gewesen.
Schockierend war daran, dass es nicht zu dem Bild passte, das ich von ihm hatte. Überhaupt nicht. Zu dem, was mein Vater gewesen war. In meinen Augen war er solide, stabil, behütend, sicher, ruhig gewesen. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sein Leben von Angst geprägt war“
S.191

Ein bestimmendes Thema des Romans ist der Tod. Die beiden Hauptprotagonist*innen erleben eine frühe Konfrontation damit. Syvert, dessen Vater bei einem Autounfall stirbt, als er zehn Jahre alt ist, Alevtina, die ihre Mutter früh an eine Krankheit verliert. Auf wie vielfältige Weise die beiden Schicksale zusammenhängen, enthüllt der Roman Schritt für Schritt. Doch die Schritte sind lang. Viele weitere Figuren werden dazwischen geschoben, jede/r erzählt in der Ich-Form und manchmal könnte man beim Lesen auch durcheinanderkommen, weil die Charakterisierungen nicht deutlich genug herausgearbeitet ist. In jeder Figur steckt auch etwas von der anderen. Vielleicht ist es ja auch so gewollt.

Distanz, eine unterschätzte Größe. Syvert empfand eine Distanz zu seinem Vater. Aber aus dieser Distanz erklärt sich ihm das Leben:

„Die Nähe erschafft nichts, weil sie nichts verlangt. Dei Nähe ist einfach. Was wir wissen, ist nahe – keine Anstrengung erforderlich. Zu dem, was wir nicht wissen, gibt es eine Distanz, wir sind nicht dort, wo das ist, was wir nicht wissen, und deshalb müssen wir uns dorthin begeben, wir müssen die Distanz überwinden, um etwas zu erfahren. Sehnsucht erfordert Distanz – Sehnsucht nach einem anderen Ort, einem anderen Zustand, einem anderen Menschen, einem anderen Wissen -, und wenn es etwas gibt, das uns antreibt, sowohl jeden Einzelnen als auch das Kollektiv, ist es Sehnsucht.“
S.689

Die hyperrealistische Prosa wird immer wieder durchkreuzt von transzendentalen Gedanken. In welches Verhältnis setzen wir uns, der Erfahrung vorausgehend, zu den Dingen, die nicht greifbar sind. Der alles verbindende Gedanke ist der an den Tod. Auf welche Art und Weise setzen sich Menschen damit auseinander, mit dem erlebten Tod, mit dem zukünftigen eigenen Tod, mit dem abstrakten Tod. Es wird erzählt aus der Historie, aus dem 19. Jahrhundert, als die ersten Wissenschaftsgläubigen für das ewige Leben demonstrierten. Es wird erzählt von den Geschäftemachern, die Menschen in Kälte-Tanks für viel Geld „aufbewahren“, bis die Wissenschaft so weit ist, den Tod zu besiegen. Es wird erzählt über russische Philosophie und Dichtung. Und auch über Tolstois Tod. Und über Lenins Tod.
Die Vielschichtigkeit könnte sich manchmal in Beziehungslosigkeit auflösen, wenn man gewisse Kernthemen aus dem Auge verliert. Sicher ist „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ ein guter Roman, aber die autobiografisch angelegten Romane Knaugards haben mich viel stärker in Bann gezogen.

Karl Ove Knausgard: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2024

Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar

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