Michaela Maria Müller: Zonen der Zeit

Wie kann so eine Geschichte genannt werden? Ist es eine Liebesgeschichte, die Geschichte einer Freundschaft, eine Beziehungsgeschichte? Sie bedient keine Klischees, weil sie gut ohne sie auskommt. Sie ist auch kein Wende-Aufarbeitungsroman. Es ist eine feinfühlige Geschichte über das Einsickern der Erfahrung des Mauerfalls in eine persönliche Biographie, über die Hintergrundgeschichte zweier Menschen, die ineinander einen Resonanzraum finden. Und es ist eine Geschichte über das Schwierigsein von Liebe; gleichwohl schwingt Liebe mit, ohne sich an die erste Stelle zu drängen. Anni und Jan verbindet eine ganz besondere Freundschaft, aus der alles werden kann, aber nichts werden muss.

Jan wird mit seiner eigenen biographischen Geschichte konfrontiert als er im Archiv des Auswärtigen Amtes die Akten des Jahres 1991 bearbeiten soll. Er erinnert sich an seine persönliche Lebenswende:

„Es lief gut. Bis mein Vater begann mir Zeit zu stehlen. Ich kann es nicht anders sagen. Wie ein Schatten begegnete er mir überall, vor allem in der Nacht. Wenn ich über den Unterlagen saß, konnte es passieren, dass mich Katja in der Früh am Schreibtisch fand und ich Stunden damit verbracht hatte, in eine Zimmerecke zu starren.“
S.39

Der Archivar und die Feuerwehrfrau bewegen sich durch eine Gegenwart, die von historischen Ereignissen geprägt ist. Für Anni ist es der 11. September 2001, der ihrem Leben eine Richtung vorzeichnet:

„Ich wollte alles wissen, was mit dem Rettungseinsatz am 11. September 2001 am World Trade Center zu tun hatte: die Interviews mit den Einsatzkräften, die die Lage erklärten, und viel später die Ehrung der Feuerwehrleute durch den Bürgermeister von New York und die Enthüllung der Memorial Wall zum Gedenken an die dreihundertvierzig Feuerwehrleute, die bei dem Einsatz ums Leben gekommen waren,
Seitdem war mir klar, dass ich zur Feuerwehr gehen würde. Egal wie aussichtslos eine Lage ist, man muss weitermachen.“
S.44

Jan studierte Geschichte und dachte darüber nach, wie ein Leben in einer DDR ausgesehen haben könnte, an den Vater, der mit einer neuen Frau ein neues Leben in Georgien lebte, an die Gründung des Landes Georgien, an all die ehemaligen Ostblockländer, die von da an nach und nach zur EU gehörten. Und so wurde aus dem Geschichtsstudenten ein Archivar, der Akten studiert.

Die beiden leben in unterschiedlichen Zonen der Zeit und in einer gemeinsamen. Ihre Zeitzonen überschneiden sich, überlagern einander und trennen zur gleichen Zeit.
Und daraus entstehen dann diese wunderschönen Poesien:

Wusstest du, dass sich die Erinnerung ändert, wenn man verliebt ist<<, fragte Jan plötzlich.
Ist das so?<<, fragte ich zurück.
Bei dem Wunsch, dem anderen näher zu sein, teilen wir auch die Vergangenheit. Dieselbe Geschichte erzählen wir aber nie auf identische Weise, und mit jeder neuen Erzählung formt sich auch Erinnerung ein wenig neu und anders.<<
S.74

Die Weltzeituhr am Alexanderplatz in Berlin, die Vergangenheit und die Zukunft, alles fällt zusammen in einer Gegenwart, die unsere Möglichkeiten, uns durchs Leben zu bewegen, gestaltet:

Gehwerk<< hieß das Getriebe der Uhr. Der Mensch ging durchs Leben, aber die Bewegung war keine freie, denn in einem Werk galt es, eine gegebene Ordnung einzuhalten. Spielräume waren nicht vorgesehen, Toleranz führte zu Abweichung. Nur so konnte die Uhr uns auf dem Zifferblatt Zeit zeigen, nach der wir lebten.
S.105

Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar

Michaela Maria Müller: 
Zonen der Zeit

Quintus-Verlag Berlin, 2024
Ausstattung: Hardcover mit Schutzumschlag


Seitenzahl: 144
Format: 205 mm x 125 mm
Preis: 22,00 €


ISBN: 978-3-96982-096-4

2 Antworten auf „Michaela Maria Müller: Zonen der Zeit

Add yours

Hinterlasse einen Kommentar

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑