Kabelsalat, bis jemand den Stecker zieht. Es ist hirnerfrischend, wenn jüngere Autor*innen mit einer eigenen Sprachkunst auftreten und es verstehen, in einer tragischen Verknüpfung von Dramatik und Situationskomik die spezifischen Facetten gesellschaftlicher Milieus zu zeichnen. Lisa Roy, die mit ihrem Roman „Keine gute Geschichte“ ihr Debüt abgeliefert hat, schreibt mit einer Feder, die ganz eigenwillig auch die düstersten und deprimierendsten Lebenssituationen der Protagonistin in einen Kontext aus persönlicher Schicksalsgeschichte und gesellschaftlicher Milieubedingtheit stellt und dabei immer einen besonderen Ausdruck dafür findet.
Arielle Freytag „hat es eigentlich geschafft“, heißt es im Klappentext. Sie ist Anfang dreißig, Social Media Managerin – gewesen – , gutaussehend, sie begehrt und ist begehrenswert, finanziell gut ausgerüstet und kommt nun, nach zehn Jahren und einem Klinikaufenthalt zurück nach Essen in einen Stadtteil, der als „prekär“ bezeichnet wird. Auch ein Unding, aber genau mit diesen gesellschaftlichen Zuschreibungen spielt Lisa Roy in ihrer Geschichte.
„Das ist keine gute Geschichte. Verschwundene Mädchen brauchen eine andere Kulisse. Frei stehende Familienhäuser mit Carports, eine tapfere Mutter, die neben ihrem Ehemann steht und den Lieblingsteddy ihrer Kleinen festhält. Einen Vater der schwanger aussieht und dem großen Bruder einen Arm um die Schultern legt. Dass wäre traurig. Das wäre perfekt.
S.7
Was sich nicht als Kulisse eignet: Ruhrgebietstristesse, Nachkriegsbauten, die nicht die Kraft haben, Hochhäuser zu sein und dürre oder fette (nimm das nicht persönlich, aber es gibt nie etwas dazwischen) Alleinerziehende, die mit künstlichen Fingernägeln an ihrem Nasenpiercing rumfummeln und in Verteidigungshaltung gehen, sobald sie den Mund aufmachen.’“
So klingt das also. Keine gute Geschichte, die sich in der Gegenwart um zwei verschwunden Mädchen handelt, die in der Vergangenheit eine verschwundene Mutter zum Thema hat und in der die Voraussetzungen der persönlichen Geschichten eben auch eine gesellschaftliche Hintergrundgeschichte haben, eine Geschichte von Hoffnung, Liebe, Verzweiflung und Aggression.
Arielle kehrt also zurück in ihr Essener Herkunftsviertel, in dem sie jahrelang mit ihrer Großmutter und deren Nacktkatzen gelebt hatte – seit dem spurlosen Verschwinden ihrer Mutter. Eine frühere Bekannte hatte sie angerufen, Varuna gehe es nicht gut, sie sei ein bisschen verstört wegen der verschwundenen Kinder und gerade erste aus der Reha zurückgekommen. Und zu Hause ist ja niemand. Also Rückkehr. In eine Wohnung, die so düster ist, dass es immer aussieht wie bei „Sonnenfinsternis“.
„Andere Leute sind depressiv, Varuna war DEPRESSIV. Der ultimative Egoismus, so eine Depression. Nach drei Monaten Klapse weiß ich, dass das nicht die Lehrmeinung ist, aber: wie wichtig muss man sich eigentlich nehmen, um die ganze Zeit darüber nachzudenken, wie hoffnungslos man ist?“
S. 83
Es sind eigenwillige Interpretationen. Die Sicht Arielles ist die einer Zugehörigen und gleichzeitig die einer der Situation Entkommenen. Von innen und von außen. Immer noch ist sie ein Teil dieses Kosmos’, gleichzeitig hat sie so viel Distanz, dass sie das Empfundene und Erlebte genau so beschreiben und auch in ihrem eigenwilligen Stil, einer Mischung aus Verletztheit, Sehnsucht und Distanzierung, zur Verdauung anbietet. Als Leser*in kaut man an manchen Stellen über gewisse scheinbare Selbstverständlichkeiten eine ganze Zeit lang. Und dann gibt es eben auch diese persönlichen Besonderheiten in dieser Geschichte um Liebe, Hoffnung und Tod.
„Es gibt diese Geschichten von Müttern, die die Kraft entwickeln, Autos anzuheben, um ihre Kinder zu retten. Varuna war wie eine dieser Mütter. Aber sie hatte die Kraft entwickelt, das Auto anzuheben, um ihr Kind darunter zu begraben.“ S.229
S.229
„Keine gute Geschichte“ ist eine Geschichte, die nicht spurlos an einem vorbeigeht.
Lisa Roy: Keine gute Geschichte
Rowohlt Verlag, Hamburg, 2023
Hinterlasse einen Kommentar