Sasa Stanisic: Herkunft

„Du übertreibst: Herkunft als Wimmelbild mit Drachen? Und einer überwacht den Steg über den Fluss in die jenseitige Welt?“
„Es ist dein Steg, Oma.“ (S.355)
Das Erzählen hält sie nicht am Leben, aber die Erinnerung lebendig. „Herkunft“ ist ein Roman, ist eine Geschichte, die abbildet und erfindet zugleich. „Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt – “ (S.20)
Natürlich hat er es drauf, der Preisträger des Deutschen Buchpreises 2019, genau dieses Versprechen einzulösen, ins Geschriebene umzusetzen: „Herkunft“ ist die Erzählung seiner Migrationsgeschichte, der Wurzeln in Visegrad im ehemaligen Jugoslawien, ist die Geschichte erfüllter und unerfüllter Träume und Sehnsüchte und ist ein Abschied. Anlass ist der Tod der an Demenz leidenden Großmutter. Mit ihrem Blick, der die sie umgebenden Dinge erkennt und auch nicht mehr erkennt, versucht Stanisic, sich ein Bild seiner Herkunft zu machen. Der erzählte Teil aus Visegrad wird dabei sehr poetisch, ein „Wimmelbild mit Drachen“, denn der Blick der Großmutter ist einer, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart mischen, in dem Wirkliches und Unwirkliches nebeneinander existieren. Seine eigene Geschichte, seine Jugend, die ARAL-Tankstelle als „soziale Einrichtung für Integration“, zeichnet einen überaus sympathischen jungen Mann, der 1992 mit seinen Eltern aus dem Herkunftsland flüchten musste, weil die muslimischen Häuser in Flammen aufgingen. 1998 werden die Eltern wieder abgeschoben während er in Heidelberg Literaturwissenschaft studieren und die Ausländerbehörde clever überzeugen kann, dass man als Schriftsteller seinen Unterhalt verdienen kann. Mit den Bildern aus Eichendorffs Gedichten romantisiert er seine Jugend, in eben diesem Sinne, was die Romantik als Bewegung junger Autoren Anfang des 19. Jahrhunderts für sie bedeutet hat: das Unbewusste kommt zum Vorschein, der Autor kann Geschichten verändern, die romantische Ironie zeigt sich in der Sehnsucht auf ein unbekanntes Ziel hin, die Verschmelzung von Sinneswahrnehmung und Erkenntis verbindet sich mit der Sehnsucht nach Liebe. Der Blick in die Ferne ist immer auch ein Blick nach innen. Auf die Frage, was die Hauptstadt seines Heimatlandes sei, antwortet er: „Belgrad und Sarajevo und Berlin.“ Der Teil, der von ihm selbst erzählt, ist mehr Abbildung als Fiktion. Vielleicht kommt es auch nur so vor und es ist ihm ganz gut gelungen, sich selbst damit zu überzeichnen.
Vor allem hat er hier mit feiner Feder die politischen Themen um Migration und die damit verbundenen Lebensbedingungen, als auch den Diskurs um Herkunft und Heimat angespielt ohne sich in den politischen Positionen zu verfangen. „Mein Widerstreben richtet sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das DAzugehören.“ (S.221/22)
Ich fand das Buch weniger poetisch, als vorhergehende Texte wie „Vor dem Fest“. Habe es jetzt auch mit Verspätung gelesen weil ich wusste: Mein Buchpreisträger wäre es nicht gewesen, ein Lektüregenuss ist es allemal.

Sasa Stanisic: Herkunft. Luchterhand Literaturverlag, München 2019

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