Die Physikern Ruth, ermüdet von ihrer Habilitationsarbeit, über die Blockuniversumstheorie, einer alternativen Theorie über die Zeit, macht sich auf den Weg nach Groß-Einland, dem Ort, an dem ihre Eltern beerdigt werden möchten, dem Ort, der in diesem Roman Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich verkörpert. Im Gepäck für die nächsten Jahre führt sie ihren andauernden Derealisierungszustand mit sich und verschiedene Psychopharmaka. Schöpfungsgegenwart, Traumzeit, innere und äußere Landschaft verschmelzen ineinander. Aber Achtung: die wahnhaften Elemente des Romans bilden eine außergewöhnliche Möglichkeitsplattform für eine politische Geschichte. Denn eigentlich geht es um Macht, um Verdrängung, um Zusammenhalt im Verbrechen und um – Vernichtung.
Das Loch in der Mitte des Dorfes Groß-Einland birgt ein Geheimnis. Hier könnte die Geschichte schon zum Ende kommen. Aber nein, Ruth taucht ein, lässt sich ein auf die verästelten Geschichten rund um das dynamisch wachsende Loch, das immer mehr Vergangenheit und Gegenwart mit sich in die Tiefe reißt.
Mithilfe eines opiumhaltigen Schmerzmittels versucht sie einem Alltag in Groß-Einland zu trotzen, der etwas Commedia-dell’Arte-haftes an sich hat. Sie soll den Stoff entwickeln für ein neues Fundament, um das Loch aufzuhalten. Sie identifiziert sich zusehends mit der Landschaft, findet dort so etwas wie Heimat. Aber es bleibt ein Unbehagen. Die Zeit vergeht, alle Strukturen verflüssigen sich. Diese Gemeinde hat ihre eigenen Gesetze, organisch gewachsene Gesetzmäßigkeiten.„Ich hatte all diese Jahre das Gefühl, das mir die Landschaft etwas mitteilen wollte, diese vermeintlich bewusstlose Natur, dass sie mir Aufschluss über meine eigene Entwurzelung geben konnte. Ich habe mit ihr gerungen – mein Gott, klingt das verrückt – und hatte das Gefühl, dieser Ort wäre mein Schicksal. Und dann bin ich eben hier geblieben.“ Ich atmete durch. „Ist es nicht ironisch, dass ich gerade dort so schnell eine Heimat gefunden habe, wo sie im Boden zu versinken droht?“ (S.342/43)
Die Protagonistin bohrt weitere Löcher in die Vergangenheit um Ereignisse nach der Befreiung von von 1200 Menschen aus einem Lager zum Ende des zweiten Weltkriegs aufzudecken„Wir können keinen Schritt machen, ohne mit unserer Vergangenheit zusammenzustoßen.“(Ebd.) Verstörend, was sie ans Tageslicht bringt.
Raphaela Edelbauer hat eine Geschichte geschrieben, die angesichts des von manchen Gruppierungen zunehmenden Verklärens einer Vergangenheit sich nicht scheut, das Thema des Nationalsozialismus in einen Roman voll poetischer Bildsprache zu packen. Und gerade das hat mir an diesem Roman gefallen: Diese Beschreibung einer Bedrohung, die ständig spürbar ist und doch im traumwandlerischen Tagesgeschäft immer wieder aus dem Bewusstsein wegzusinken droht. Ein außergewöhnlicher Debüt-Roman.
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Klett-Cotta, Stuttgart 2019
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