Prosaminiatur 2

Bei Webers kam nun ein Kind nach dem anderen. Marie-Tim schnappte eines Tages bei einem Gespräch zwischen Sophie Weber und der Mutter den Satz auf: „Ach, s’duat mer so leid, dass se a Kind verlora ham. Wenn se zamme aufwachset, isch halt scho sche.“

Marie-Tim dachte, sie hätte irgendwann ein kleines Bündel Baby aus Versehen, beim Einkaufen vielleicht, auf dem Markt oder so, irgendwo liegengelassen, oder es sei aus der Handtasche herausgekullert. Auch nach Tagen des Nachdenkens darüber „… dass Sie ein Kind verloren haben“; der Sinn dieser Worte erschloss sich nicht. Die Mutter merkte, dass das Kind ganz verstört alles im Haus auf den Kopf stellte. Was man verliert, muss man doch wieder finden können?


„Marie-Tim, was ist denn los mit dir?“
Eine der seltenen Gelegenheiten, bei der sie es bei seinem vollständigen Namen nannte – immer wenn es ernst wurde.
„Ich will das verlorene Kind wiederfinden!“
Ein schmerzliches, kurzes Lächeln und ein trauriges: „Nein, mein Schatz, das geht leider nicht“, gaben dem Kind das Gefühl, sie noch zusätzlich verletzt zu haben. Sachte fuhr es über ihre Hand. Dann schaute sie es ernst an, setzte sich auf einen Kinderschemel vor es hin, nahm seine beiden Hände in die ihren und begann zu erzählen:

„Weißt du, ihr wart zwei Babys in meinem Bauch. Niemand wusste das, ich nicht, der Arzt nicht, die Hebamme nicht. Als ein fürchterliches Gewitter losbrach – ich wartete schon seit vielen Tagen auf die Geburt, weil der Bauch sehr groß war – ging plötzlich alles ganz schnell. Ein Blitz, ein gewaltiger Donner und das Kind wollte ganz schnell geboren werden. Ich habe es nicht mehr rechtzeitig geschafft zum Krankenhaus. Ja, man könnte sagen, ich habe es auf dem Weg zum Krankenhaus verloren. Du kannst es aber nicht wiederfinden, es ist gestorben. Wir haben sein Leben verloren.“

Sie senkte den Kopf, aber die Tränen waren doch zu sehen. Es verging einige Zeit, bis sie wieder aufblickte. Sie lächelte wieder: „Aber dann bist ja du gekommen. Wir waren alle überrascht, vor allem ich und ich habe mich so sehr gefreut über dich.“

Sie zog das Kind an sich und in einer heftigen Glücksaufwallung streichelte Marie-Tim ihr Haar und hatte auf einmal das Gefühl, dass auch auf sie aufgepasst werden musste. Sie nahm es bei der Hand, zog ihm eine Wetterjacke an und zum ersten mal führte sie es auf den Friedhof.

Ein grünes Stück Wiese, mit Steinen eingefasst, eine weiße Rose, ein hölzernes Kreuz: Timo Geissler. Das Kind konnte damit nichts anfangen.
„Hier liegt dein Zwilling begraben.“
Wie ging das? Ein Kind ist ein Kind und ein Kind lebt immer! Wie konnte es irgendwie nicht mehr leben, „begraben“ sein?
“Ist mein Zwilling gleich groß wie ich?“
„Nein, man bleibt so, wie man ist, wenn man stirbt. Es ist ein Baby, das hier begraben liegt. Ich hab’s nicht gesehen, ich weiß nicht, ob es gleich aussah wie du bei der Geburt.“ „Du hast es nicht gesehen? Aber dann weißt du doch gar nicht, ob es noch ein Baby gegeben hat!“
„Doch, ich hatte ja zwei Geburten.“ Sie brach ab und wandte sich zum Gehen.

Noch kannte das Kind keine Angst vor dem Tod, denn der Tod war etwas Unvorstellbares, etwas Nicht-Existentes. Aber das Verschwinden von Personen, das machte ihm zu schaffen. Vor allem das Gefühl des Verlusts von jemandem, der hätte da sein sollen. Den Vater hatte es auch verloren, ohne ihn gekannt zu haben. Doch ihn hatte es auf eine Art verloren, die es ihm erlaubte, zu hoffen ihn wiederzufinden, irgendwo.

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