Peter Richter: 89/90

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Roman Luchterhand, München 2015,
Shortlist Buchpreis 2015

Ein Wenderoman, ja, wie viele Wenderomane haben wir schon gelesen? Aber so einen noch nicht. Anscheinend ist die Perspektive eines Jugendlichen für die Erzählung unverfälschter Gefühle jetzt gerade eine beliebte Perspektive erfolgreicher Literaten. Wenn uns Frank Witzel, Träger des Buchpreises 2015 mit den Erfindungen und Innenansichten eines manisch-depressiven Teenagers erfolgreich beanspruchen kann, warum nicht auch Peter Richter mit einem Roman über einen 16/17 jährigen, der inmitten seines subjektiven Gefühlschaos die Wende als etwas Aufregendes erlebt und daran Spaß hat, die deutsche Einheit aber keinesfalls will.

Der letzte Sommer im Freibad, vor allem nachts, zu verbotener Stunde – aber da waren gleich viele Leute im Freibad, wie tagsüber – , die letzten Leistungskontrollen in der Schule und gleichzeitig das Auftauchen der ersten militanten Nazis: in rasantem Tempo erzählt Peter Richter in kurzen Passagen, was die Jugendlichen in der größten Umbruchphase Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg erleben. Und wie es Jugendlichen so eigen ist: sie sind leicht paralysiert und man hat den Eindruck, ja, die Tragweite, hm …, aber es geht ihnen doch alles direkt unter die Haut, weil es eben alles das erste Mal ist und immer etwas Persönliches. Es wird alles ein bisschen kleiner durch diese Perspektive, aber es wird auch sehr erfrischend lebendig. Wobei Peter Richter auch nicht versäumt, uns mit leichter Ironie und Witz zu unterhalten:

„Wir mussten nun nicht mehr in den Weltkriegsruinen herumklettern, die überall noch in den Straßen standen, und wir mussten auch nicht mehr in leergewohnten Altbauten die Fenster verhängen und Kerzen anzünden, wir feierten unsere Feten jetzt in Wohnungen, die eben erst aufgegeben worden waren: Das Licht ging noch, die Plattenspieler liefen, und, wenn wir Glück hatten, war sogar der Kühlschrank noch voll.“ (Ebd., S.153)

Zum Ende hin gibt es viel Haudrauf zwischen Nazis und Antifas. Im Epilog werden die späteren Entwicklungen der fiktiven Charaktere entworfen, der eine wird Söldner, der andere Immobilienmakler. Sie werden zu Karikaturen ihrer selbst.

Was den Schluss rettet – auch das ist ein gegenwärtiges Phänomen: die herausragende Rolle der Musik in diesen Romanen – ist der Rückbezug auf den Anfang der Geschichte, als die Hauptprotagonisten noch überzeugt davon waren, mit ihrer Band groß rauszukommen. Obwohl sie nur drei Griffe auf der Gitarre spielen konnten. Leider ist aus der Band dann nichts geworden, unter diesen Umständen: „… denn das glauben wir heute fest und sagen es uns immer wieder: dass man es in der Jugend schon ein bisschen langweilig haben muss, um eine wirklich gute Band zu werden.“ (Ebd., S.411/12)

Die letzten Sätze verweisen noch mal auf das Programm, worum es in dieser Geschichte ging: um eine Wende, die als Begleitumstand in einer wichtigen Entwicklungsphase erlebt wird. Aber sind es nicht genau diese Geschichten, in denen eine Situation, auch eine historische, etwas in einem Menschen auslöst und wir als Leser über die Geschichte seiner Gefühle eine Annäherung versuchen?

„Noch wussten wir nicht, wie alles kommen und was alles verschwinden würde. Noch galten bewaldete Achseln als begehrenswert. Noch wusste keiner, wie schnell sich selbst das ändern würde. Wir waren in einer Phase der Unschuld, die wir natürlich für das Gegenteil hielten: War jemals jemand so erwachsen wie wir?“ (Ebd., S.19)

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