Mirko Bonné: Nie mehr Nacht

Schöffling & Co, Frankfurt am Main, 2013

Das Glück der Melancholie.

Mirko Bonné, 1965 in Tegernsee geboren, lebt seit 1975 in Hamburg und hat eine lange Liste an Übersetzer-, Förder-, und Literaturpreisen vorzuweisen. Seine Romane sind getragen von einer eigentümlichen Stimmung. Es ist eine Stimmung die entsteht aus dem Wissen, dass alles, was wir leben und erleben immer nur eine Möglichkeit ist, begleitet von der Traurigkeit über den Verlust des Ungelebten.

Schon in seinem vorigen Roman Wie wir verschwinden ist das Leitmotiv die persönliche Geschichte eines Mannes mit seinen Mechanismen des Verdrängens. Das Verborgene wird erzählt durch das Verschweigen. Auch in Nie mehr Nacht wird eine Geschichte erzählt, die zunächst das Wesentliche verschweigt. Der Leser bekommt Hinweise, bleibt aber bis zum Ende im Unklaren.

Es ist die Geschichte eines eng miteinander verbundenen Geschwisterpaares. Iras Angst vor der Nacht; ist sie der Grund für die enge Bindung, oder wird sie erst ausgelöst dadurch? Nur miteinander ist es auszuhalten und „’Das Bett ist das Bett, das Zimmer das Zimmer. Der Flur ist der Flur und die Treppe die weiße Treppe.’ Die Tür war die Tür, und sie war zu.“

Ira lernt Sprachen wie eine Verrückte, ist in vielen Ländern unterwegs, hat hier und da einen Liebhaber und schließlich auch ein Kind. Markus Lee heiratet seine Nachbarin, lässt sich von ihr scheiden und versteht, warum seine Jugendliebe Nana seinen besten Freund geheiratet hat.

Ira lebt nicht mehr. Es ist eine Geschichte über die Angst, über den Schmerz, über das allmähliche sich selbst abhanden kommen. Eines Tages setzt sie in ihrer Garage ihrem Leben ein Ende. Markus bleibt mit sich zurück. Hätte es nicht für ihr Leben eine andere Variante geben können? Bis dahin ist vieles, was so entscheidend ist, scheinbar nur eine von mehreren Möglichkeiten, zufällig.

Markus bekommt von seinem Freund Kevin den Auftrag, in der Normandie die Brücken zu zeichnen, um die herum die Kämpfe 1944 am D-Day stattgefunden haben. Er nimmt den Auftrag an und reist mit Iras 15-jährigem Sohn Jesse in ein stillgelegtes Hotel, das von einer befreundeten Ornithologen- Familie über den Sommer in Stand gehalten wird. „Allen Ernstes hatte ich mir vorgenommen, das Vergangene gegenwärtig und das Tote lebendig werden zu lassen.“ Er ist der Einzige, der die Geschichte der Brücken in seinen Zeichnungen zum Leben erwecken kann, sagt Kevin. Doch er kann nicht mehr zeichnen. Wie einst Picasso hatte er vorher schon damit begonnen, das Zeichnen immer mehr zu reduzieren, um zu sehen was übrigbleibt. Es bleibt nun nicht einmal der letzte Strich.

Er beginnt, alles zu verschenken, stopft seine Papiere in einen Mülleimer, schiebt seinen Rucksack mit seinen Lieblingsbüchern unter ein Regal, verkauft sein Auto, schmeißt das Geld weg… Und räumt die Garage auf.

Die Geschichte nimmt eine Wendung, als ihm eine Frau begegnet mit dem bedeutungsschweren Namen Lilith. Sie ist eine Variante, eine Möglichkeit des Lebens von Ira. Und Markus übernimmt die jugendliche Haltung von Jesse: manchem, was so entscheidend ist, scheinbar zufällig daher kommt, kann man den Namen „Schicksal“ geben. Und in kleinen Schritten beginnt Markus Lee sich zurückzugewinnen.

Bonnés Welt ist kompliziert. Das macht sie anstrengend aber auch gewinnend, denn es ist immer alles da. Die Protagonisten sind schlau genug, das zu erkennen. Und doch können sie nicht anders, weil sie nur eine ihrer Möglichkeiten wählen und weil das Leben ihre Wahl wählt. Selbst wo sich die Geschichte ins Positive wendet, haftet ihr noch etwas Schweres an. Der Tag ist ohne die Nacht nicht zu haben. Das Glück ist das Glück der Melancholie.

Bonnés „Zwillingsromane“ „Wie wir verschwinden“ und „Nie mehr Nacht“ sind auf einer zweiten Ebene mit historischen Ereignissen verknüpft – das hebt das Persönliche auf eine allgemeinere Stufe – und bleiben doch ganz persönliche Entwicklungsgeschichten, in denen sich die Protagonisten durch das Leben selbst abhanden kommen und um einen Rest Bodenhaftung ringen. Und die großen Rätsel bleiben im Rätselhaften, im Unergründlichen. Nur eine leise Ahnung, ein Gefühl, dass das Tasten durch die Varianten zwar immer mit einem Scheitern verbunden ist, aber außerdem noch alles da ist, bindet den Leser bis zum Schluss, manchmal auch darüber hinaus.

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