Marjana Gaponenko: Wer ist Martha? Suhrkamp Verlag Berlin, 2012
Eine feine Geschichte über den Abschied vom Leben
Die 1981 in Odessa (Ukraine) geborene junge Autorin schreibt seit ihrem 16. Lebensjahr in deutscher Sprache, ist Preisträgerin des Chamisso-Preises und hat mit „Wer ist Martha“ ein bezauberndes, ein bestrickendes und ein humorvoll groteskes Buch vorgelegt. In einem Interview sagt sie von sich selbst, sie schreibe, weil sie die Zusammenhänge interessieren, von Herzen, die Geschichten ergreifen von ihr Besitz und entwickeln sich wie von selbst. Für die Literatur wünscht sie sich mehr Mut zum Pompösen, zum Opulenten, zum Barocken, zum Pathetischen. All das hat ihre Geschichte und doch ist sie getragen von einer Klarheit und Leichtigkeit.
Es gelingt Marjana Gaponenko die letzten Tage im Leben eines 96 Jahre alten Ornithologen so glaubhaft und dicht an der Person zu zeichnen, dass man den alten Galizier Lewadski und seine wunderliche Weltsicht im letzten Aufbäumen gegen den Tod als skurrile Variante mit echter Sympathie verfolgt.
Ein komischer Kauz, dieser Lewadski:
Schade, dass das Leben jetzt zu Ende geht, wo es erst spannend wird.
Der Ornithologe machte sich einst einen Namen mit der bahnbrechenden Studie Über die Rechenschwäche der Rabenvögel. Lewadski hat schon früh erkannt: es muss eine gemeinsame Ursprache gegeben haben, von allen Lebewesen. Deshalb ist er der Überzeugung, dass sich die Sprache der Vögel übersetzen lässt in menschliche Sprachgebärden. Nicht von ungefähr dreht sich das meiste um das Balzverhalten. Ja, die Weibchen, die hätten ihn schon interessieren können, wenn sie nicht immer so sehr ihre Andersartigkeit betonen würden.
Dabei gab es mal ein Mädchen. Als er sie mit einem Anderen Torte essen sah, hat er gekotzt, so wie er kotzt, als er die Nachricht des Arztes am Telefon hört. Nie in seinem Leben hat er sich sonst solch eine Unpässlichkeit erlaubt.
Sein Leben ist ein wunderlicher Zustand, ist gewissermaßen eine Ersatzhandlung. Akribisch erforscht er das Wander- und Fortpflanzungsverhalten verschiedener Zugvögel. Nun, am Ende angelangt, verabschiedet er sich von der Wissenschaft, von seiner Wohnung, von seinem Leben, ohne zu hadern und steigt im besten Hotel Wiens ab, wo er vor Jahren logierte zum Waldrapp- Kongress. Und Schokoladentorte aß. Von jetzt an jeden Tag ein Stück Schokoladentorte, so wie damals mit seiner Mutter und seinen Tanten, die ihn immer mit ins Konzert nahmen.
Es gibt nur eines, was er am Ende seines Lebens bedauert: dass er nie das Singen lernte. Singen sollte man können, wie die Vögel, denn die Vögel singen ihre Seele aus dem Leib. Doch gerade davor muss er sich schützen. So wie schon sein Vater selbst beim Coitus durch den Gesang einer Amsel erstarrte, um ihr ehrfurchtsvoll zu lauschen, so legt auch Lewadski sein ganzes Erleben stellvertretend in die Vogelwelt. Er traut sich nicht, selbst zu singen. Durch den Suizid des Vaters, als er noch ein kleiner Junge war, blieb er lange in einer symbiotischen Beziehung mit der Mutter. Die Vogelzeichnungen des Vaters, das Wissen der Mutter als Ornithologin, und ihr Wunsch für seine Zukunft zeichneten für den jungen Lewadski eine Deutungsrichtung vor: die Welt drückt sich aus in Vogelsprache, im Gesang der Vögel. Die Welt kann man nur verstehen, wenn man den Vögeln zuhört. Und vielleicht noch der Musik.
Im Hotel Imperial trifft er auf einen alten Herrn, mit dem er noch einmal alles teilt, was ihm bedeutungsvoll war. Die Gefühle, die sich im Kontakt mit Witzturn, einem greisen Leidensgenossen, einstellen, sind echt und groß und kauzig. Immer mehr überlagert eine visionäre Traumebene die Realität, Wahrnehmungsräume vermischen sich. Er erzählt dem Zimmerbutler Habib seine Lebensweisheiten und auch hier entsteht noch einmal eine ganz besondere Nähe unter Wahrung höflicher Distanz. Mit viel Respekt und Achtung. Nur so kann einander begegnet werden.
Das ist das wunderbar eigentümliche an der Geschichte: Es entsteht eine Stimmung der tiefsten Sympathie für diesen komischen Kauz, getragen von Achtung und Respekt und ein bisschen Bedauern. Die letzte Wandertaube Martha starb an seinem Geburtstag. Die einzige Martha, die für ihn in Frage gekommen wäre, hat ihn enttäuscht. Trotz allem ist sein Leben, das stellvertretend über die Vogelwelt gelebt wird, ein erfülltes, ein achtenswertes und er ist am Ende dazu in der Lage, mit Selbstironie in dieser grotesken Situation des Wissens, dass das Leben bald endet, diesem Rest noch das Letzte und Beste abzuverlangen: Luxus, Freundschaft, menschliche Nähe und Schokoladentorte.
In der Tat, das Buch bereitet ein herrliches Lesevergnügen und kann nur weiter zum Lesen empfohlen werden. Ganz besonders vereinzelte Gedanken des Herrn Lewadski wie “ Vielleicht ist die Schönheit nur die Gewissheit, dass man die Erinnerung nicht nötig hat, um ihrer gewiss zu sein.“
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