Wer wir sind, was wir wollen.
1.Auflage September 2012, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg.
Özlem Topcu, Alice Bota und Khue Pham, drei erfolgreiche ZEIT- Redakteurinnen, sind junge Frauen mit internationalen Wurzeln, die nach ihrer Aussage an einem der „deutschesten Orte der Republik“ arbeiten und trotzdem als hybride Identitäten ihre eigenen Biografien nicht verlässlich verorten können.
Zur Ankündigung ihres Buches schreiben sie darüber in der ZEIT: „Heimat ist für uns ein schmerzhaftes und sehnsuchtsvolles Ding. Heimat ist die Leere, die entstand, als unsere Eltern Polen, Vietnam und die Türkei verließen und nach Deutschland gingen.“ Biografie hat hier also im ersten Moment etwas mit Geografie zu tun. Wir sprechen Menschen, die offensichtlich ihre Herkunftswurzeln woanders haben, keine deutsche Identität zu. Aber was macht jemanden zum „Deutschen“? Vielmehr, wäre es nicht an der Zeit, wenn jeder vierte in Deutschland lebende 25- Jährige ein Mensch mit internationalen Wurzeln ist, darüber nachzudenken, wie der Status des Deutschseins neu definiert werden kann?
Eindrucksvoll schildern die jungen Frauen ihre Erlebnisse, den Preis des Deutschwerdens, das Bemühen, sich manchmal bei Besuchen im Herkunftsland der Eltern ein Stück Heimat auszuleihen, das Akzeptieren der Bedeutung zweier Prägungskulturen, die Auseinandersetzung mit Außen- und Innenwahrnehmungen. „Vielleicht ist die Vorstellung von Heimat keine so gute Idee mehr. Sie passt nicht in eine Gesellschaft, in der viele Menschen zerrissene Lebensläufe haben.“ (ZEIT, 06.09.12)
Für einen Moment gelingt es, sich hineinzuversetzen in eine Kindheit, in der das, was als identitätsstiftend gilt, das, was in der Schule in Geschichte, in Religion, in Gemeinschaftskunde gelehrt wird, erlebt wird als etwas, mit dem man sich eben nicht identifizieren kann, weil es nicht die eigene familiäre, kulturelle, religiöse Geschichte ist. Sich hineinzuversetzen in diejenigen, die empfinden, dass ein Normensystem von seiner Definition her seine Geltung rechtfertigt durch Ausgrenzung und Unterscheidung.
Wäre es nicht an der Zeit, über eine Neudefinition der Nation nachzudenken? Durch das Zusammenleben mit unterschiedlichen kulturellen Normensystemen fließen neue semantische Kontexte in unserer aller Lebensbedingungen ein. Wenn wir Demokratie und menschenrechtlich verankerte Normen ernst nehmen, ist es dann nicht zwingend, neue Interpretationen, erweiterte Bedeutungen mit einzubeziehen?
Im Zuge eines zunehmenden Kosmopolitismus ist es an der Zeit, auch politische Grundsätze inhaltlich neu zu überdenken. Es ist keine Frage des Befürwortens oder Ablehnens, darüber sind wir längst hinaus. Die Frage ist vielmehr, wie kann nun neben staatsbürgerlichen und sozialen Rechten auch die Dimension der kollektiven Identität neu verankert werden?
Es geht auch gar nicht darum, wer sich nun mehr anstrengen muss. Die neuen Deutschen wissen, dass auch sie nachsichtig sein müssen und verstehen müssen, dass es Zeit braucht, um als Deutsche wahrgenommen zu werden. Aber als ein wichtiges Ziel kann vielleicht formuliert werden, dass die Frage: „Bist du türkisch oder deutsch?“, so nicht mehr gestellt wird und nicht mehr die Antwort gegeben werden muss: „Keines!“, denn Nicht- Zugehörigkeit bedeutet auf gewissen Art auch Nicht- Identität.
Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Jedenfalls nicht eine Gesellschaft, in der sich ein Viertel als Heimatlose empfindet.
„Der Wunsch, akzeptiert zu werden: Ist das nicht ein universeller Wunsch? Und ist nicht die Fähigkeit, andere zu akzeptieren, genauso universell? Manchmal wissen wir nicht, wer wir sind. Manchmal wissen andere nicht, wer wir sind. Aber eines ist uns nun bewusst: Wir sind deutscher, als wir denken. Was kann daran schon schlimm sein?“
Im Deutschland ihrer Zukunft, so wie die jungen Frauen es wünschen, gibt es keine Parallelwelten mehr, das Wort „Migrationshintergrund“ existiert nicht mehr, es gibt „nur eine Gesellschaft“.
http://www.zeit.de/2012/36/Deutsche-Migranten-Heimat-Identitaet
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