Karl Ove Knausgard: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit

Ein Bildungsroman, ein Liebes – und Ideenroman, über das Zeitgebundene und über das Ewige und Unveränderliche – so wird dieser Roman auf dem Klappentext beschrieben. 1050 Seiten stark ist das Werk, dem ich nicht immer mit der versprochenen Spannung folgen konnte. Es gab schon andere Knausgard Bücher, in denen kein Satz zu viel, keine Seite überflüssig gewesen wäre. Das empfinde ich hier nicht so.
Die Entwicklungsstränge einiger, völlig unterschiedlicher Figuren werden zunächst getrennt voneinander beschrieben. Der junge Syvert kommt nach seinem Militärdienst im Jahr 1986 nach Hause zurück und versucht, sich die Vergangenheit seines vor zehn Jahren durch einen Unfall verstorbenen Vaters zu erschließen und damit seiner eigenen Lebensgeschichte ein wenig näher zu kommen. Dabei stößt er auf eine ihm bis dahin verborgene Liebesgeschichte mit einer unbekannten russischen Frau. Dieser Teil umfasst nahezu die Hälfte des Buches und ist – zumal Syvert eher durch Ödnis gekennzeichnet ist, als durch Lebendigkeit, ein ziemlich langer Strang der Beschreibung des Verlorenseins.

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Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman des französisch senegalesischen Autors erfreut sich durchgängig begeisterter Rezensionen und so hat auch mich dieses Buch – noch bevor ich irgendeine davon gelesen hatte – gepackt und ich war schon lange nicht mehr in einem solchen Sog. Das Buch löst Neugierde aus, Wissensdurst, , allerhand Emotionen die sich in rasantem Tempo abwechseln und einfach nur Lust am Lesen machen, wie selten ein Buch.

Auf der Suche nach einem verschollenen Autor, T.C. Elimane, begibt sich der junge Schriftsteller Diégane auf Spurensuche – durch die Zeit und über die Kontinente und in die tiefsten Erinnerungen seiner Cousine Siga D. Über den, wie sein Autor, verschollenen Roman, das „Labyrinth des Unmenschlichen“, erfahren wir nicht so wahnsinnig viel, nur dass er in seinem Aufbau und seiner Zitation der großen Werke der Menschheit einzigartig sei. Und was er auslöst ist ein Literaturstreit, in dem sich der Kulturkonflikt ganz offen zeigt, mit allen Ressentiments und rassistischen Ideologien.

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Beatrice Salvioni: Malnata

Ja, der Roman bedient viele Klischees, aber: die Figuren sind so voller Leben, der Zauber der Situationen und die Sprache verführen zum Lesen am Stück. Als Debüt-Roman ein großer Erfolg für Salvioni mit Übersetzungen in 35 Sprachen. Passend zur Frankfurter Buchmesse mit Italien als Gastland ist dieser Roman sicher ein Highlight aus dem Schatz der jungen Autor*innen.
Die Geschichte ist im Italien von1935 angesiedelt, der Faschismus, ein Kolonialkrieg und verschiedene Formen von Diskriminierung bilden den Rahmen für eine einzigartige Freundschaftsgeschichte. Francesca, Mädchen aus gutbürgerlichem Haus, fühlt sich magisch angezogen von der Malnata, der Unheilbringerin, einem Mädchen, dem der Trotz aus dem Gesicht spricht und der Dreck zwischen den Zehen durchquillt, ein Mädchen, das sich auflehnt gegen gesellschaftliche Konventionen. Alles, was thematisiert wird könnte in jedem gesellschaftskritischen Roman ein Thema sein: die Macht des Geldes, das falsche Ansehen, die Korruption, die Frauenverachtung, der Missbrauch. Was mich trotzdem an die Geschichte gefesselt hat, ist Salvionis Begabung, die Faszination des Düsteren zu beschreiben. Das Nicht-Selbstverständliche im Bekannten herauszuziselieren als besondere Beziehungsereignisse, die so nur zwischen diesen beiden Personen stattfinden können.

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Frank Schätzing: Der Schwarm

Eigentlich schon ein alter Schinken, aber grad jetzt, zu dieser Sommerzeit mit einem Wetterextrem nach dem anderen ein absolut aktueller und anregender Klimathriller. So einen 1000 Seiten-Schätzing hatte ich bisher noch nicht auf dem Tisch, aber der hat mich gepackt. Die Anregung dazu hat tatsächlich eine ZDF-Serie geliefert. Auf der Basis von Schätzings Roman entstand eine 8-teilige Serie, die mich neugierig gemacht hat auf mehr. Um dem Roman gerecht zu werden, hätte es dreißig oder vierzig Folgen gebraucht, aber auch in der abgewandelten Form auf jeden Fall sehenswert. https://www.zdf.de/serien/der-schwarm (Fernsehpreis 2023 Bester Mehrteiler)

Die Natur schlägt zurück. In der Fernsehserie mutet es etwas seltsam an, als ein Kollektiv aus Wissenschaftlern vor einem internationalen Council von einer anderen Intelligenz spricht, die in absichtsvollem Verhalten von mutierten Meerestieren ausgehend einen Angriff auf die Menschheit startet. Aufgrund der Kürze ist diese Theorie hier reine Science Fiction. In Schätzings Roman ist das alles sehr detailliert ausgearbeitet und entwickelt sich eher als eine Theorie, die den Menschen in seinem Größenwahn zurechtstutzt und eine andere Perspektive anbietet.

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Antonio Munoz Molina: Tage ohne Cecilia

Mein erstes Buch von diesem spanischen Schriftsteller ist wie eine Einladung seinen Perspektiven auf das Leben und dem Innenleben seiner Figuren nachzuforschen. Die Feinsinnigkeit im Beobachten und Beschreiben ist getragen von einer Stimmung, die sich zusammensetzt aus Interesse und Resignation, aus Liebe und Verzweiflung, aus Trauer und Ironie.
Eine Person, Bruno, der Erzähler und Erzählte, fällt aus der Zeit. Er fällt und fällt und fällt aus seinem Leben, obwohl er es in dem Bemühen, sich durch einen Umzug von New York nach Lissabon ein neues Leben aufzubauen, an keiner Anstrengung und an keinem guten Willen fehlen lässt. Doch schon allein der Ansatz, dieselbe Wohnung wie in New York nachzubilden, lässt mich schaudern. Was ist das, wenn ein Mann, die Wohnung, in der er vermutlich Jahre – man weiss nicht so genau wie lange, denn die Zeit ist etwas sehr Relatives in dieser Geschichte – mit der geliebten Frau verbracht hat, wenn ein Mann genau diese Wohnung repliziert? Es kommt mir vor wie ein Schrein, in den der Verlorene zurückkehrt und in dem er sich seinen letzten Aufenthaltsort gestaltet als ewige Erinnerung. Etwas Neues wird nicht mehr passieren. Er erklärt sich selbst die Geschichte einer Liebe.

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Anja Jonuleit: Kaiserwald


Anja Jonuleit kenne ich in ganz anderen Zusammenhängen, aus den historisch belegten Geschichten um die Colonia Dignidad, die sie in „Rabenfrauen“ beschrieben hat. Die Art und Weise, wie sie eine Geschichte zusammensetzt und in mehreren Stimmen gestaltet, ist dieselbe wie hier in einem fiktiven Familiendramakrimi. Es liest sich gut, ist spannend aufgebaut und fügt auf raffinierte Art und Weise verschiedene Elemente aus Gegenwart und Vergangenheit ganz allmählich zusammen.
Eine der Hauptprotagonistinnen, Rebecca, Lehrerin in Riga, verliebt sich 1997 in den Vater einer Schülerin. Nicht lange danach verschwindet sie spurlos. Ihre Tochter Penelope lebt fortan bei den Großeltern und gibt den Glauben nicht auf, dass ihre Mutter noch lebt. Mathilda, Ex-Gebirgsjägerin macht einen parallelen Erzählstrang auf, von dem nicht ganz klar ist, wie er mit der tragischen Familiengeschichte verwoben sein könnte. Ihr Anliegen ist, den Machenschaften einer Familie des Geldadels auf die Spur zu kommen. Dabei entspinnt sich eine verrückte Liebesgeschichte.
Erzählt wird aus drei verschiedenen Perspektiven und drei Zeiten. Auf diese Art und Weise entsteht ein spannendes Puzzle, das immer andeutungsweise auf die Abgründe der menschlichen Seele hindeutet.

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Michaela Maria Müller: Zonen der Zeit

Wie kann so eine Geschichte genannt werden? Ist es eine Liebesgeschichte, die Geschichte einer Freundschaft, eine Beziehungsgeschichte? Sie bedient keine Klischees, weil sie gut ohne sie auskommt. Sie ist auch kein Wende-Aufarbeitungsroman. Es ist eine feinfühlige Geschichte über das Einsickern der Erfahrung des Mauerfalls in eine persönliche Biographie, über die Hintergrundgeschichte zweier Menschen, die ineinander einen Resonanzraum finden. Und es ist eine Geschichte über das Schwierigsein von Liebe; gleichwohl schwingt Liebe mit, ohne sich an die erste Stelle zu drängen. Anni und Jan verbindet eine ganz besondere Freundschaft, aus der alles werden kann, aber nichts werden muss.

Jan wird mit seiner eigenen biographischen Geschichte konfrontiert als er im Archiv des Auswärtigen Amtes die Akten des Jahres 1991 bearbeiten soll. Er erinnert sich an seine persönliche Lebenswende:

„Es lief gut. Bis mein Vater begann mir Zeit zu stehlen. Ich kann es nicht anders sagen. Wie ein Schatten begegnete er mir überall, vor allem in der Nacht. Wenn ich über den Unterlagen saß, konnte es passieren, dass mich Katja in der Früh am Schreibtisch fand und ich Stunden damit verbracht hatte, in eine Zimmerecke zu starren.“
S.39

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Zeruya Shalev: Nicht ich

Zeruya Shalev ist sowohl Lyrikerin als auch Romanautorin und bei ihrem neu erschienenen Buch „Nicht ich“ ist unverkennbar die Wahrnehmung und deren Interpretation in Sprache in einem lyrischen Bildschatz gestaltet. Emotionen und Eindrücke haben etwas Surreales oder auch Überreales, wie es in alltäglichen Sprachformen gar nicht beschrieben werden kann.
Im Hebräischen ist dieser Titel bereits 1993 als ihr Debüt-Roman erschienen, nun liegt er endlich auch in deutscher Übersetzung vor. Man merkt diesem Buch an, dass sie kurz vorher einen Lyrik-Band veröffentlich hatte. Die Geschichte des Romans: „Wie überlebt man es, die Familie für eine neue Liebe zu verlassen?“

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Anja Jonuleit: Rabenfrauen

Vielleicht das erschütterndste Buch, das ich im letzten Jahr gelesen habe. Eine verspätete Rezension, anlässlich der Neuerscheinung von Anja Jonuleit. Vor ein paar Tagen kam ihr Roman „Kaiserwald“ heraus, ich freue mich darauf.

In „Rabenfrauen“ erzählt Anja Jonuleit eine Verführungsgeschichte, eine Geschichte voller Manipulation, Gewalt, Entsetzen und Hilflosigkeit. Es ist eine Geschichte über die Colonia Dignidad. Und es ist eine Geschichte darüber, was eine „überwertige Idee“ aus Menschen macht, aus den Peinigern und aus den Opfern.

„RUTH. Lange Zweit habe ich geglaubt, dass Erich an allem schuld war. Dass all das ohne ihn niemals geschehen wäre. Ich habe meinen Hass auf ihn genährt, und erst jetzt, da ich kurz vor meiner großen Reise stehe, frage ich mich manchmal, ob nicht auch er ein Opfer war. Wie Christa und all die anderen, die wie die Lemminge auf den Abgrund zusteuerten. Obwohl es mir schwerfällt, die mit den Knüppeln als Opfer zu sehen.“

S. 9
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Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Dieses Buch hat mich ganz und gar in seinen Bann gezogen. Schon der erste Roman von Raphaela Edelbauer: „Das flüssige Land“ hat mich begeistert, weil es eine selten so wahrgenommene Gabe ist, Worte einsetzen zu können, die auf ganz unmittelbare Art komplexe Gefühle und gleichzeitig Bildwelten zum Ausdruck bringen. Deshalb ist man auch so gebannt: man sieht und spürt Dinge, von denen man bisher nicht wusste, dass man sie sehen und spüren kann. Eine der großartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeiten!
Die Inkommensurablen – das sind einerseits Irrationalzahlen:

„Sie sind unendlich, manchmal transzendent und können doch von jedem Kind mit einem Dreieck gezeichnet werden.“

S. 42
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