Martin Kordić: Jahre mit Martha

Was ist die Leerstelle, die nicht zu füllen ist im Leben eines Jungen aus einer Familie, in der die Eltern aus ihrem Land flüchten mussten? Die Eltern haben eine Entscheidung getroffen. Der Junge muss damit leben. Die Nicht-Zugehörigkeit wächst sich aus zu einem seelischen Unbehaustsein. Željko, genannt Jimmy, lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in Ludwigsburg in einer Zweizimmerwohnung. Der Vater arbeitet die ganze Zeit auf irgendwelchen Baustellen in Deutschland, die Mutter putzt an mehreren Stellen – ein Klischee, aber ja, eine Realität, so stellt sich das eine Mehrheit auch vor, ohne sich Vorwürfe zu machen.
Der schlaue Junge wird in der zehnten Klasse mit einem Stempel versehen: Arbeiterkind. Er solle doch vom Gymnasium abgehen und Gärtner werden. Das könne man aus seinem Interesse für Mathematik und Biologie ablesen. Geradezu zynisch! Der Hunger nach Bildung und nach einem anderen Leben scheint in einer hoffnungslosen Sackgasse zu enden, doch der junge Željko bekommt eine Chance. Er lernt Martha kennen, bei der seine Mutter eine ihrer Putzstellen hat. Die viel ältere Universitätsprofessorin eröffnet ihm eine neue Welt der Gedanken und Möglichkeiten. Hauptsächlich erzählt diese Coming-of-Age-Geschichte von einer wunderbar zärtlichen Liebe, so schön, so achtsam, so auf das Wohlergehen des anderen bedacht, mit Szenen einer zurückhaltenden Sexualität, die verzaubern. Gleichzeitig erzählt diese Geschichte, die in Wahrheit eine Geschichte der Machtverhältnisse ist, das Scheitern der wichtigen Beziehungen, weil auch diese Beziehungen auf einer Art Abhängigkeit beruhen. Martha macht das geschickt. Sie lässt ihm alle Freiheit. Aber sie bindet ihn auf eine Art und Weise an sich, in der sie sein Leben kontrolliert. Ein Pop-Professor der Uni, an der er studiert, macht ihn vollkommen von sich, von seinem Wohlwollen abhängig und lässt ihn fallen.
Martin Kordić erzählt aber das Schwere nicht mit dieser Schwere. Der Roman ist in einem malerischen Ton gehalten und verzaubert mit seiner Sprache, der man die dahinterliegenden Abgründe nicht gleich anmerkt.

„Es hatte bisher in meinem Leben keine Notwendigkeit gegeben, in einem Hotel zu übernachten. Wenn ich in den Sommerferien mit meinen Eltern und Geschwistern in die Herzegowina gefahren war, hatten wir auf dem Weg an einer österreichischen Raststätte kurz hinter Villach zu fünft im Auto geschlafen und im Haus meiner Baba und meines Dedos dann auf mitgebrachten Luftmatratzen.“
(S.119/120)

Bei einem Segelkurs am Starnberger See lernt er, Kommandos zu geben und Kontrolle abzugeben, je nach Situation und ihm wird klar, was es für Martha bedeutet, gemeinsam zu segeln. Ein zauberhaftes Vergleichsbild, das zugleich einen Einblick gibt in die darunterliegenden Abgründe:

„Ich lernte, dass Dominanz ein starkes Füreinander bedeuten kann, wenn die Unterwerfung freiwillig geschieht und beide Seiten das gleiche Ziel haben: das sichere und gemeinsame Erreichen eines Hafens bei gleichzeitigem physischen und psychischen Wohlergehen aller Beteiligten.“(S.148/149) …
… >>Warum sind wir ein so diszipliniertes Schiff?<<
>>Um vorbereitet zu sein.<<
(S.151)

Alle anderen, parallel laufenden Liebesverhältnisse sind hier im Roman ein Katalysator für die vielen ins Leere laufenden Emotionen. Sie sind eine Möglichkeit, für einen Moment ein echtes Gefühl mit jemandem zu teilen, der es auch wirklich versteht.

„>>Nostalgija haben<< war eine Wendung, die wir erfunden hatten für etwas, das wir beide oftmals fühlten. Es war unsere balkanische Verlorengegangenheit bei gleichzeitiger Sehnsucht nach einem Zuhause, das es nicht gab, in einem Land, das es nicht gab, die sich in Sex und einem Gegenüber auflösen musste, das genau das Gleiche fühlte.“
(S.218/219)

Wie wenig eine Verständigung darüber möglich ist mit jemandem, der keine erzwungene Identitätsteilung oder -auflösung erfahren hat, das zeigt sich nicht nur in den besonderen Situationen, sonder oft auch im ganz Alltäglichen. Was ist selbstverständlich für jemanden? Was gehört, sozialisationsbedingt zur eigenen Identität und kann nicht hinterfragt werden?

„Jeder Vorwurf, den ich anderen hatte machen können, wäre auch ein Vorwurf gegen einen Teil von mir selbst gewesen. Einerseits wusste ich, was richtig und was falsch war, andererseits küsste ich Menschen links und rechts auf die Wang, die andere Menschen getötet hatten, genauso wie ich Menschen links und rechts auf die Wange geküsst hatte, die später getötet worden waren.
Weil das meine Familie war.“
(S.213)

Identität und Stolz, das hängt hier – wie in anderen Migrationsgeschichten auch – auf eine Art und Weise zusammen, dass man es sich als Nichtbetroffene wenigstens ansatzweise vorstellen kann, wie sehr die ständigen Herabwürdigungen aufgrund von Rassismus und Vorurteilen die Entwicklung einer mit sich selbst einigen Identität nahezu unmöglich machen.

Die politische Hintergrundgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Klassenkämpfe und Machtverhältnisse, sondern auch eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Bereitschaft zur militärischen und paramilitärischen Gewalt, die überall lauert und überall zu beobachten ist – selbst auf der Almhütte. Als wäre die Bereitschaft zur kriegerischen Auseinandersetzung etwas Selbstverständliches. In diesem Sinne gerade jetzt eine wichtige Geschichte.

Martin Kordić: Jahre mit Martha
Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2022

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