Samantha Harvey: Umlaufbahnen

Booker Prize 2024. Auf ganz eigenwillige Art und Weise beschreibt Samantha Harvey einen einzigen Tag von sechs Astronautinnen auf einer Raumstation. Aufgeteilt ist das Buch in 16 Umlaufbahnen. Sechzehn mal umkreist die Raumstation die Erde und jedes mal erscheint sie wörtlich in anderem Licht. Das, was die Astronautinnen auf dieser Reise wahrnehmen, ist verknüpft mit persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen, an Orte, an Personen, an Ereignisse.
Ich konnte mich mit keiner der Personen so richtig anfreunden, aber das spielte hier überhaupt keine Rolle. Jede/r für sich hat einen einzigartigen Blick auf die Welt und gleichzeitig eint sie etwas:

„Bald ergreift sie alle ein Verlangen. Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen.“ …
„Aus ihrer Perspektive ist der Einfluss der Politik so offensichtlich, manifestiert sich in jedem Detail des Anblicks, dass sie gar nicht verstehen, wie ihnen das zunächst entgehen konnte. (…) Langsam erkennen sie die Politik des Hungers. Wenn sie nach unten blicken, beginnen sie die Politik des Wachstums und Erwerbs zu sehen, eine millionenfache Potenz des Verlangens nach mehr.“
S.120 ff.

Wie verändert eine Situation, eine Perspektive unser Denken und Wahrnehmen? Das ist eine allgemeine Frage, die immer wieder gestellt werden muss. Und hier kommt sie ganz von selbst um die Ecke und ruft: Natürlich! Egal, von welchem Kontinent, aus welchem Land, aus welchem politischen Hintergrund wir hier auf der Raumstation kommen, unsere Wahrnehmungen verändern sich und unsere Verletzlichkeit treten geschärft hervor

Velázquez berühmtes Bild „Die Hoffräulein“ wird geschickt hineingewoben mit der Frage: Wer sieht wen an? Und wer ist der Betrachter? Und was wird Wirklichkeit durch das Auge des Betrachters?

„Der Wunsch, gleichzeitig nicht hier sein und für immer hier sein zu wollen, das Herz ausgehölt vor Verlangen, nur dass es keine Leere ist, sondern eher das Wissen darum, wie viel hineinpasst. Der Anblick auf die Umlaufbahn bewirkt das, verwandelt sich in einen wogenden Winddrachen, der Form und Leichtigkeit durch alles erlangt, was du nicht bist.“
S. 168/69

Ob politische Haltungen oder menschliche Sinnfragen: aus der Perspektive eines die Erde mehrmals am Tag Umrundenden bekommen viele Reflexionen eine andere Dimension. Vieles wird umso lächerlicher, vieles umso gewaltiger. Und die fragile Zerbrechlichkeit von allem ist auch aus dem All sichtbar.
Der Schluss hat mir besonders gut gefallen – weil etwas offen bleibt.

Und es bleibt eine Zen-Frage: Was ist der Klang des Lichts?

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