Ulla Coulin-Rieger: Es wird so unbemerkt zu spät

Ein nachdenklich stimmender Text zu einem Phänomen dieser Zeit, das wir einfach nicht so recht einordnen können. Von manchen Rezensent*innen als „Der Burnout-Roman unserer Tage“ bezeichnet, wird in „ Es wird so unbemerkt zu spät“ zu einem vielschichtigen Krankheitserscheinungsbild eine Skizze dargeboten, die es stellenweise wie eine ansteckende Viruserkrankung erscheinen lässt.

„Dr. Helfrich, der sich gerne in Metaphern auszudrücken pflegte, lieh sich auch diesmal ein Bild aus der Natur: >>Gleich der weißbeerigen Mistel<<, erklärte er seinen Assistenzärzten, >>deren Samen im Frühling durch Wind und Vogelkot in die Kronen unserer Obstbäume gelangt, wo der Keimling dann im Herbst deren Säfte anzapft und sich allmählich nach außen in verzweigten Kugeln offenbart, genauso nistet sich der unbekannte Erreger im limbischen System des Menschen ein, mitten im Zentrum unseres Fühlens und Bewertens.<<“

S.5

Auch die Aussagen der Patient*innen bestärken den Eindruck, man habe es mit einer Art Viruserkrankung zu tun, deren Ausmaß nicht abzusehen ist: >>Ich erkenne mich nicht wieder<<. Und es wird von Infizierten gesprochen. Das macht es einfacher, die vielen verschiedenen Ursachen, die eine Burnout-Erkrankung haben kann, größtenteils außer acht zu lassen. Ulla Coulin-Rieger kann sich so auf einen Präzedenzfall konzentrieren: den jungen Arzt und Psychiater Rafael Lenz. Über ihn bekommen wir viele Einblicke in das Krankheitserscheinungsbild und gleichzeitig liefert er die klassische Folie für den schleichenden Verlauf einer Burnout-Erkrankung.

Er stellt seinen Patient*innen folgende drei Fragen: „Was hat Sie krank gemacht? Was brauchen Sie von mir? Was für ein Mensch möchten Sie sein?“ Ein einfaches Muster, mit dem er seine Therapie beginnt und das große Erfolge zeitigt. Er ist ehrgeizig und leistungswillig, hat selbst einen Vater im Nacken, der seine Arbeit nicht ernst nimmt und als Industrieller diese Befindlichkeiten nur belächelt:

„>>Bleierne Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Verzweiflung, Unfähigkeit zu arbeiten?<< Heinrich zog die Begriffe aus Rafaels Artikel so unnatürlich in die Länge, dass sie vollkommen lächerlich klangen. >>Das soll eine Krankheit sein?<<“ S. 28

S. 28

Es ist klar, unter welchem Beweisdruck Rafael steht. Und als er seine Ehe, seine Kinder, sein Leben zugunsten seiner Arbeit vernachlässigt, verwundert das nicht. Er bringt die Forschung auf diesem Gebiet voran, entwickelt Therapiemethoden, bei denen er sich selbst als Person immer mehr gibt, hingibt, und in einer Phase des Größenwahns schließlich zusammenbricht. Aus Schlaflosigkeit werden Wahnvorstellungen:

„Wollen die Zeichen mir bedeuten, dass ich mich opfern muss, um all die Unglücklichen zu retten?“

S.144

Der erste Teil des Romans erschien mir etwas zu konstruiert, im weiteren Verlauf hat mich die Geschichte dann doch sehr interessiert. Von einem Neuen Menschen wird gesprochen, der mithilfe von Dr. Lenz’ Therapie neue Wege beschreitet und seine eigenen schöpferischen Kräfte wiederentdeckt – allerdings nicht so, wie von den Sponsoren seiner ihm übertragenen Klinik gewünscht: diese neuen Menschen opfern sich nicht mehr auf für die Arbeit. Sie wollen ihr Leben gestalten. Aber sie brauchen ihren Erlöser und Heilsbringer.

Insofern ist der Roman einerseits Gesellschaftskritik, aber auch mit vielen Fenstern in die Psyche auf allen Seiten: auf Seiten derer, die sich dem Leistungsdruck unterworfen haben und auf Seiten derer, die als Heilsbringer und Weltverbesserer am Ende sich selbst und auch anderen schaden. Eine interessante Geschichte.

Ulla Coulin-Rieger: Es wird so unbemerkt zu spät. Molino Verlag, Schwäbich Hall, 2023

Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar

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