Benjamin Myers: Offene See

Eine Geschichte über das selbst gewählte Leben, Lieben und Sterben und die Elastizität der Zeit.

Der Erzähler der wunderbar bildhaften Geschichte ist ein in die Jahre gekommener Schriftsteller, wir vergessen das im Lauf der Geschichte und erinnern uns erst wieder ganz am Ende daran. Er blickt zurück auf die eine, entscheidende Etappe in seinem Leben, die ihn zu dem gemacht hat, was er geworden ist: die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, die zusammenfällt mit seinem Aufbruch ins Leben, ins Ungewisse, ins Poetische.

Robert verlässt sein Elternhaus, sein Dorf, seine Region im Norden Englands, die Bergarbeiter und ihre Mühsal und alles, was von ihm erwartet wird. Es zieht ihn nach Süden, in Richtung Abenteuer, hin zu etwas Freiem, Lebendigeren als das vorgezeichnete Leben. So arg weit kommt er gar nicht, muss er auch gar nicht, denn er findet das, was alles für ihn verändert: Dulci, eine alternde Frau, zurückgezogen in ihrem Cottage, eigenwillig wie ihr Hund Butler, dickköpfig und liebenswert und mit der Fähigkeit zur Hingabe ans Leben gesegnet.
Die Erzählung lebt von der Eigenwilligkeit der Figuren und den besonderen Beziehungen, die daraus entstehen – und von Ben Myers Bildern, wenn er die Dinge beschreibt. Es sind Vergleichsbilder, die beim Hören die Augen stimulieren.

„Ich folgte Pfaden durch wispernde Wiesen und zerfurchtes Gestrüpp, sprang über Steinmauern, stieg über Zauntritte und trat durch Schwinggatter, deren oberste Sprossen im Laufe der Jahrhunderte von den schweißfeuchten Händen umherziehender Landarbeiter oder Bergwanderer schädelglatt abgegriffen worden waren.“
S.32

Dulci ist eine gescheite Frau. sie hat ein großes Leben, eine große Liebe gehabt und einen großen Schmerz davongetragen. Aus der Arbeit am Schmerz entsteht Weisheit. Sie wird zur Mentorin für Robert, ganz nebenbei und immer mehr.

„Ich will damit sagen, drehen wir der Zeit eine lange Nase, denn Zeit ist auch bloß ein System von selbst gewählten, willkürlichen Grenzen, die einengen und kontrollieren sollen. Möge das Heute für immer währen, Robert. Begreifst du, was wir hier machen? Wir untergraben just das, was die Menschheit zusammenhält. Wir werfen die Ketten ab.“
S .102

Und dann ist es die Poesie, die Dulcis Leben und Lieben geprägt hat, und die nun in Roberts Leben fällt, unerwartet, wie die Gegenstände in den Märchen, die den einsamen Kindern in den Schoß fallen und ihrem Leben eine neue Richtung geben.

„Wir leben im Chaos und aus Chaos erwächst Krieg. Ich kann es auch einfacher für dich ausdrücken, wenn du möchtest: Der erste Weltkrieg war die größte Gräueltat, die die Menschheit je begangen hat. Was haben wir daraus gelernt? Größere und bessere Bomben bauen, mehr nicht. Hitler ist trotzdem passiert, und zu gegebener Zeit wird es wieder einen wütenden kleinen Mann geben. Manchmal denke ich, dass wir in vielerlei Hinsicht völlig irre sind, und das ständig. Wahrscheinlich ist das eine kollektive Form von Wahnsinn. Anders ist nicht zu erklären, dass wir immer wieder dieselben Muster von Tod und Gewalt durchleben. Romy hatte das erkannt. Romy wusste es. Sie hatte nämlich die dichterische Klarsicht. Der wahre Dichter durchschaut das Gespinst aus Lügen, späht in den Raum zwischen den Dimensionen.“
S.166/167

Und dieser Dichter erschafft zauberhafte Bilder über die Elastizität der Zeit, macht neugierig auf mehr und es fallen der Leserin viele alte Werke ein, große Meister, die ähnliche Themen sprachlich exzellent gestaltet haben. Diese Inspiration ist eine begeisternde für das, was die guten Geschichten ausmacht.

Benjamin Myers: Offene See
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Fünfte Auflage 2022, Originalausgabe 2019, deutsche Ausgabe 2020, DuMont Buchverlag Köln

3 Kommentare zu „Benjamin Myers: Offene See

Gib deinen ab

  1. Liebe Dagmar,
    passende Besprechung zur Zeit.
    Las gestern auf Klick einer Blogger-Kollegin unseren E-Mail-Wechsel zu Deiner Philosophiegeschichte nach.
    In der „Politeia“ war der Wechsel der Verfassungen nach- und vorgezeichnet.
    Friedliche Wünsche und herzliche Grüße
    Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Bernd,
      das ist ja interessant, bin gerade in anderen Zusammenhängen auch wieder sehr mit den Anfängen der Staatstheorien befasst. Würde gerne ein neues Buch schreiben: Zoon Politicon – Was nun?
      Friedliche Wünsche ist das einzige, was man gerade verschicken kann. Herzlich
      Dagmar

      Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: