Gegenwärtiges kritisches Denken steht im Zentrum der Arbeit der spanischen Philosophin Marina Garcés, so auch in der 2019 auf deutsch erschienenen Ausgabe: Neue radikale Aufklärung.
In der Tradition der Frankfurter Schule übt Garcés ihre Kritik an einer ideologisierten Vernunftinterpretation, die uns eben dahin geführt hat, wo wir heute stehen: an einen historischen Punkt allgemeiner Erkenntnis der angerichteten Zerstörung. Sie bezieht sich zum Einstieg auf ein Zitat aus dem Grundlagenwerk von Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, der Dialektik der Aufklärung:
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollen aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 3, Suhrkamp, 1997, S.19)
Das ganze Wissen, das uns zur Verfügung steht, reicht allenfalls hin, die eingeläuteten Prozesse zu verlangsamen. Deshalb schlägt sie ihre Neue radikale Aufklärung vor: „Ich plädiere dafür, den Kampf gegen die Leichtgläubigkeit wieder aufzunehmen und an die Freiheit und Würde der menschlichen Erfahrung zu glauben, nämlich daran, dass der Mensch fähig ist, von sich selbst zu lernen.“ (Garcés S.14) Sie prophezeit das Ablaufen unserer lebbaren Zeit, und in diesem Wissen leiden wir unter der größten Hilflosigkeit: der, nicht eingreifen zu können in unsere Lebensbedingungen. Wir, das sind hier die Menschen, die durch eine Wissens- und Informationsgesellschaft in eine neue Art von Knechtschaft geraten sind. Wir können nicht mehr Schritt halten mit der von uns selbst erzeugten Komplexität. Das einzige, das uns aus dieser Hilflosigkeit befreien kann, „… ist der Kampf des Denkens gegen das etablierte Wissen und seine Autoritäten, ein Kampf des Denkens, der eine Überzeugung vermittelt: Dass wir durch das Denken besser werden können und dass nur das des Denkens würdig ist, was auf die eine oder andere Art dazu beiträgt.“ (Ebd., S.48)
Kampf gegen Leichtgläubigkeit bedeutet für Garcés Kampf gegen Herrschaftsansprüche. Dazu muss in der Tradition Adorno/Horkheimer die Vernunft selbst einer Kritik unterzogen werden. In diesem Zusammenhang gilt es, unsere Definition von Wissen zu hinterfragen. Unsere Beziehung zur Umwelt zu verstehen und zu verbessern, das ist Wissen. (Ebd., nach S.61) Das, was unsere Wissenschaft an Wissen generiert, und was für uns in das Gefühl der Hilflosigkeit mündet, bezeichnet sie als „aufgeklärten Analphabetismus“ (Ebd., S.72) Wir müssen mit der Welt, von der wir uns haben trennen lassen, wieder in Verbindung treten.
Die Mechanismen, die unbemerkt greifen, um Kritik zu neutralisieren, sind nach Garcés: „Die saturierte Aufmerksamkeit, die Segmentierung des Publikums, die Standardisierung der Fachsprachen und die Vormachtstellung des >>Solutionismus<<.“ (Ebd., S.79)
Die saturierte Aufmerksamkeit bezeichnet eine Übersättigung. Unsere Filter funktionieren nicht mehr. Wir sind überfordert mit all den Informationen. Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit und Depression sind die Phänomene der Zeit. Die Segmentierung von Wissen, die Übernahme von vorgefertigten Meinungen resultiert aus dieser Überforderung. Und wenn dann sogenannte“Blasen“ entstehen, in denen man sich unter ständiger Bestätigung derselben Inhalte bewegt, dann ist das mit der Kantischen Heteronomie vergleichbar, einer Fremdbestimmung, die wir selbst wählen. Hand in Hand damit geht die Standardisierung der Fachsprachen in den Wissenschaftsbereichen, die einzelnen Wissenschaften verlieren die Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren. Und der Solutionismus ist dann die erlösende Utopie aus dem Silicon Valley. Hier wird die Intelligenz delegiert an eine künstliche Intelligenz, die weniger störanfällig sein soll, als die menschliche. Diese Intelligenz kann nach Garcés aber eines nicht: sich selbst kritisch hinterfragen.
Wenn es einen zukunftsweisenden Entwurf gibt, dann liegt der darin begründet, dass der Mensch – so eingeschränkt dies auch genutzt wird – immerhin von der Idee her dazu in der Lage ist, reflexiv selbstkritisch mit sich in Gericht zu gehen, Paradigmenwechsel vorzunehmen, sich andere Interpretationen von Mensch und Welt zu erschließen. Deshalb ist sie gefordert für ein Umdenken, für ein fortschreitendes Denken als Kritik, eine Neue radikale Aufklärung.
Antike, Rennaissance, Neuzeit; Logos, Tao, Wissenschaft; Rousseau, Adorno, Horkheimer und viele viele mehr werden als beispielgebend aufgeführt. Das Büchlein ist sehr interessant und sehr anregend, versucht aber auf 120 Seiten die gesamte Wissenschafts- und Erkenntnistheorie als Paten heranzuziehen für die Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen. Etwas zu ehrgeizig für diesen bescheidenen Umfang. Jedoch: „Statt aussterbende Geisteswissenschaften, Geisteswissenschaften im Wandel.“ (Ebd., S.95) Das wäre doch mal wieder was. Ein Paradigmenwechsel ist gefragt.
Vielleicht darf man ja auf weitere Publikationen dieser Philosophin gespannt sein. Ihre 4. Hypothese zu den Geisteswissenschaften im Wandel lautet:
„Die wichtigste epistemologische Tatsache unserer Gegenwart für das gemeinsame Schicksal der Menschheit ist die Wiederentdeckung des Kontinuums Natur-Kultur.“ (Ebd., S.116, Hervorh. Im Original)
Die spanische Philosophin Marina Garcés ist Professorin für Gegenwartsphilosophie an der Universität Saragossa.
Marina Garcés: Neue radikale Aufklärung. Verlag Turia + Kant, Wien, 2019. Originalausgabe: Nova il lustració radicale, Barcelona 2017
Herzlichen Dank für diese Rezession.
Die Aussagen in diesem Buch, Gracés S.14 & 48 (wie von dir zitiert), sind eigentlich nur zu ertragen (wenn sie auch so zutreffen, was ich persönlich glaube) mit der von ihr getätigten Aussage, dass der Mensch fähig ist, von sich selbst zu lernen“ (bzw. sein Denkvermögen zu nutzen vermag). Aber ist das so? Mir erscheint, unsere heutige Zeit mag durch eine wache und handelnde Gesellschaft charakterisiert werden, die jedoch aufgrund übermäßiger Kommunikation und massiver Gleichförmigkeit der Mentalitäten das Bewusstsein zu verlieren droht. Das wäre in Analogie zu unserem menschlichen Gehirn eine epileptische Gesellschaft (Epilepsie: der betroffene Patient ist (1) wach, (2) zum Handeln fähig aber (3)ohne Bewusstsein). Bewusstsein setzt unabdingbar ein Denken voraus?
Der von Gracés benutzte Begriff der „Leichtgläubigkeit“ erscheint mir in diesem Zusammenhang als wichtig. Wenn die heutige Gesellschaft als leichtgläubig bezeichnet werden kann, ist wohl eine Vorrausetzung dazu eine Faulheit (oder Zeitnot) zum Denken; zur gegebener Zeit können wir ja das Denken anderer im Internet abrufen (ohne zu wissen, inwieweit das Resultat validiert wurde). Wobei wir wieder bei der Leichtgläubigkeit wären.
Ernst
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Lieber Ernst, wenn ich Garcés richtig verstanden habe, bezeichnet dieses „von sich selbst lernen“ nicht ein selbstreferentielles Lernen des Individuums von sich selbst, sondern die Fähigkeit des Menschen, vom Menschen zu lernen, was bedeutet, dass Menschen sich in ihrem aufeinander-Beziehen voneinander lernen. Das Bild der epileptischen Gesellschaft karrikiiert eine Tendenz, die man im Gebrauch und in der Nutzung massenmedialer Technologien beobachten kann. Gleichwohl ist durch alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen die Sehnsucht nach der persönlichen aufeinander-Bezogenheit spürbar. Und das ist auch der Ansatzpunkt für Bewusstheit. Das bewusst reflektierende Gespräch mit dem anderen verlangt etwas von mir und vom Gegenüber. Die Nutzer der massenmedialen Technologie würden dem widersprechen, dass sie hier eine gewisse Bewusstheit verlieren. Die meisten sind sich dessen bewusst und pflegen nicht weniger Kontakte im direkten Bezogensein auf jemanden. Eine Kritik am Denken der jeweiligen Zeit ist ieigentlich mmer angebracht, sie wird besonders laut, wenn große Schieflagen nicht zu bewältigen sind. Diese Kritik ist wichtig, weil sie uns inspiriert. Andererseits glaube ich nicht, dass es jemals anders war, dass im zeitlichen Verlauf Veränderungen im Umgang mit dem, was relevantes Wissen sein soll, vorhanden waren und große Unterschiede in der Auffassung dazu bestanden. Die durch die mediale Vernutzung des Individuums und damit einhergehende Leichtgläubigkeit ob der Menge an zu verarbeitender Information, ist tatsächlich ein großes Problem, auch die Neigung zur Selektion der Informationen und das Expertentum, das nicht mehr in der Lage ist, sich nach links oder rechts sich zu verständigen. Informationszeitalter und Wissensgesellschaft bringen Effekte hervor, die von einer reiferen Generation aus ihrem gewohnheitsmäßgen Denken heraus befremdlich sind. Die einzig vernünftige Schlussfolgerung ist für mich zu versuchen, den öffentlichen Diskurs mit zu gestalten. Am liebsten im direkten Dialog. 🙂
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Liebe Dagmar, recht herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Natürlich hast Du mit deiner Argumentation recht. Gleichwohl bleibt bei mit ein laues Gefühl zurück, irgendetwas fehlt…Ist es der Umstand, dass „wir“ vielleicht ein neues Sprechen und Handeln erlernen sollten; mit mehr Empathie (i.e. Fürsorge) – ein miteinander betonend und manchmal ein weniger laut, und dies in den öffentlichen Raum hineintragen?
Ernst
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Ja, lieber Ernst, das ist genau das, worum ich mich zwar bemühe, wenn es zur Profession wird, aber auch an meine Grenzen stoße. Gleichwohl, den öffentlichen Diskurs anzuregen mit solchen Themen ist das, was logisch – und emotional – gefordert ist.
Liebe Grüße
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