Martin Burckhardt: Eine kurze Geschichte der Digitalisierung

Wer es gerne kurz und knackig, ohne viele Umwege mag, ist mit diesem Buch über die Geschichte der Digitalisierung gut beraten. Immerhin 300 Jahre – inklusive eines Ausblicks in die Zukunft – werden auf diesen 250 Seiten beschrieben. Überraschend sind die ganzen notwendigen Vorläuferentwicklungen, die zu einer Denkstruktur und zu Fragestellungen beigetragen haben, die eine Entwicklung der digitalen Technik erst ermöglicht haben.

Wer vermutet schon in den Experimenten des Abbé Jean-Antoine Nollet 1746 zur elektrischen Leitungsfähigkeit und zur Frage der Geschwindigkeit elektrischer Ladung den Beginn der Entwicklung moderner Prozessorarchitektur? Es ging um „Echtzeit“ in der Übertragung, um die Möglichkeit des „Fernhandelns“. Franz Anton Mesmer baute Versuchsreihen zur Reaktion von Muskeln auf Strom, woraus die Phantasie der Mary Shelley des Dr. Frankenstein entsprang. 1812 beginnen die Träume des jungen Mathematikers Charles Babbage von einer Rechenmaschine und schon George Boole als Begründer der symbolischen Logik entwickelte die Basis jeder Programmiersprache mit seinem binären System aus 0 und 1.
Aber nicht die faktischen Daten sind das Interessante an dieser kurzen Geschichte, sondern die damit in Zusammenhang gebrachten Fragestellungen. Welche Art der Ausstattung unseres Verstandes geht dem Denkakt voraus, der Äpfel und Birnen vergleichen kann? Nur mithilfe solch grundlegender Ansätze kann an die große Aufgabe einer Universalsprache herangegangen werden. Bereits die Entwicklung der Lochkarten als eine Aufgabe, weil sich Information als Währung nutzen lässt, erweist sich als janusköpfig. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan), der die Opfer zu Datenträgern, zu Nummern macht.
Ach, und die Rolle der Geheimdienste, des Militärs. Wer bezahlt schon all die Forschung.
Die verschiedenen Revolutionen durch technische Entwicklungen von der militärischen Aufrüstung bis ins Kinderzimmer, wo „das Kind, das in der Gottperspektive über seiner Welt thront, sich plötzlich mit den chaotischen Folgen seiner eigenen Entscheidungen konfrontiert sieht“ (S.127), bringt Simulationstechnik und Größenwahn in Zusammenhang und lotet damit auch die Grenzen unseres Verstandes aus. Nichtsdestotrotz sind Computermodelle in mehrfacher Hinsicht eine doppelte Herausforderung: „weil sich die Menschen, über die Erarbeitung eines Computermodells, ihres eigenen Weltbilds bewusst werden.“ (S.129)
Natürlich befasst sich die Hälfte des Buches mit den großen Vorreitern und den Hauptakteuren des Silicon Valley bis hin zu den Ideen der Marsbesiedlung und der Tesla-Entwicklung. Der gesamte Bereich der sozialen Medienwelt wird hier aber bewusst ausgeklammert. Dies seien ja auch nur Anwendungen der vorab vorgestellten Gesetzmäßigkeiten, um deren Entwicklung als etwas genuin Neues es ging.
Mit jeder Entwicklung gehen Visionen einher, Visionen für eine Zukunft. „Deshalb vielleicht dieses Buch: Weil ich mir wünsche, dass man nicht über aufgeblasene Ängste diskutiert oder sich wie unsere Ministerin der Vorstellung hingibt, dass man der nachwachsenden Generation das Digitalisierungsbewusstsein mit dem iPad ins Hirn schreiben könne, so wie man das früher mit dem Nürnberger Trichter gemacht hat.“ (S.221/22) Es geht um die Auseinandersetzung, um die den technischen Entwicklungen vorausgehenden Fragestellungen.

„Insofern ist der Computer – und das ist vielleicht die präziseste Deutung – als universale Maschine aufzufassen, als Instanz, mit der sich jeder beliebige Zweck realisieren lässt.“ (S.229)

Letztendlich ist das Resümee aus diesem Buch, dass die Angst vor der Veränderung durch die Digitalisierung eine instrumentalisierte Angst ist. Die Triebkraft, die den ganzen Entwicklungen zugrunde liegt, kann unterschiedlich genutzt werden. Die Freisetzung der Arbeitskraft durch die digitalisierte Arbeitswelt könnte selbst in Verbindung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu einer tiefen Sinnkrise führen. Dennoch: Martin Burkhard bleibt auf einem angenehm neutralen Standpunkt, der Fragen aufwirft, ohne konkrete Antworten zu formulieren. Die digitale Logik zu verknüpfen mit einer Zukunftsvorstellung ist eine Gestaltungsaufgabe, zu deren „Wie“ uns der Autor keine Hinweise gibt.

Martin Burckhardt denkt 2046 darüber nach, warum man die digitale Logik nicht besser genutzt hat: „Hätte man nicht, anstatt sich in kulturellen und religiösen Auseinandersetzungen zu verlieren, eine lebens- und liebenswertere Welt schaffen können?“ (S.249)

Kurz und knackig, informativ und eine Herausforderung: Sich des eigenen Weltbildes bewusst zu werden in den Fragestellungen, vor welchen Karren von Zwecken man sich spannen lässt.

Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar. http://www.penguin-verlag.de

4 Kommentare zu „Martin Burckhardt: Eine kurze Geschichte der Digitalisierung

Gib deinen ab

  1. Hallo Dagmar,
    freut mich, wieder zu lesen, was Du liest.
    Bei dem großen Hype der Digitalisierung ist deren Geschichte auf jeden Fall interessant. Bei Boole dachte ich auch an Gottfried Wilhelm Leibniz mit seinen dualen Zahlen. …
    Der Nürnberger Trichter kommt ins Spiel, ist eine Redensart geworden. Und kommt aus der Barockzeit von dem schönen Buch von Georg Philipp Harsdörffer:
    Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI Stunden einzugiessen. Samt einem Anhang Von der Rechtschreibung / und Schriftscheidung/ oder Distinction. Durch ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft. Erste Auflage: 1647. Zum zweiten Mal aufgelegt und an vielen Orten vermehret. Nürnberg/ Gedruckt bey Wolfgang Endter, Nürnberg 1648–1653
    Selbst wer dual oder binär programmiert, noch vielmehr, wer sich der digitalen Medien bedient, kommt ja um die Sprache und Rechtschreibung nicht wirklich herum.
    So mag ich mich weder von den Geschäftemachern der Digitalisierung euphorisieren, noch von den Apokalyptikern der Digitalisierung deprimieren lassen. Maß und Mitte, oder Maß und Ziel bleiben.
    Gute Wünsche, herzliche Grüße
    Bernd

    Like

    1. Hallo Bernd,
      ja, war mal kurz weg, hab‘ vor, in nächster Zeit wieder mehr zu schreiben. Freut mich, wenn es jemanden interessiert!
      Das richtige Maß zu finden im Umgeng mit den gegenwärtigen Digitalisierungsszenarien ist sicher die hohe Kunst. Einiges darüber zu wissen, um sich vernünftig damit auseinanderzusetzen hilft auf jeden Fall.
      So ein Nürnberger Trichter wäre allenthalben nicht schlecht, da muss ich mal nach dieser Schrift schauen. Vielen Dank für den Hinweis!
      Herzliche Grüße
      Dagmar

      Gefällt 1 Person

  2. Bitte, bitte, bitte korrigieren:
    „„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Clean)“
    (auch nicht schön: „Letztendlich ist das Resümee aus diesem Buch, dass die Angst vor der Veränderung durch die Digitalisierung eine instrumentalisierte Angst.“)

    Like

    1. Vielen Dank für diesen Hinweis, dabei habe ich mich mal mit Ingeborg Bachmann und Paul Celan beschäftigt, den Buchstabendreher im Namen muss die Autokorrektur verbockt haben, ohne dass ich noch mal kontrolliert habe.

      Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: