Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! 2.Teil

Teil 2: Die Utopie

Seit vergangenem Sonntag hören wir auf allen politischen Plattformen „Macron fordert ein Umdenken für Europa“. Genau dazu haben PolitikwissenschaftlerInnen wie Ulrike Guérot im Vorfeld eine Menge gearbeitet und bereits Utopien geliefert:

„Wir könnten uns das Gros der Brüsseler Bürokratie sparen, wenn wir uns auf eine schlanke europäisierte Verwaltung einließen, deren Rechts- und Verwaltungsakte auf dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger beruhen würde.“ (S. 145) Bestechendes Argument. Aber was würde dieser Gleichheitsgrundsatz bedeuten, und warum wehren sich die Länder, speziell die Deutschen, dagegen?

Die territoriale Neuordnung Europas erfolgt nach Guérot durch einer Verschiebung der Machtverhältnisse von der vertikalen auf die horizontale Ebene. Autonome Provinzen mit einheitlich europäischer Infrastruktur und fiskalischem Föderalismus lösen die Nationalstaaten ab. Wenn die Regionen gleichberechtigt an der Gemeinwohlfindung beteiligt würden, könnte jenseits von nationalem Bewusstsein eine Beheimatung in der Region stattfinden, unter dem Dach von Europa.

„Stellen wir uns also vor, wir könnten die nationalen Grenzen einfach so wegschmelzen, es gäbe sie nicht mehr. Was bliebe, wären geografische Grenzen (Flüsse und Berge); Sprachgrenzen und kulinarische Grenzen; dazu Organisationen, Vereine, Verbände oder Betriebe sowie unterschiedliche Gepflogenheiten. Außerdem religiöse Grenzen, Grenzen zwischen Parallelgesellschaften, Klassengrenzen und vieles andere mehr.“ (S.161)

Voraussetzung dafür ist ein Bekenntnis, das Bekenntnis zu den Menschenrechten, zu good governance, zu Rechtsstaatlichkeit, Klimaschutz, Nachhaltigkeit und vielem mehr. Guérot schlägt eine soziale und rechtliche Kontrolle der Märkte vor, Zugang zu kollektiven Gütern und das Recht auf Mitnutzung. Und für viele Bereiche muss es dazu ein gemeinsames Konzept geben, z.B. für Erbschaftssteuer, Recht auf Arbeit und Bildung, Chancengerechtigkeit, usw. Das sind einige der Punkte, die gegenwärtig in Zusammenhang mit der Wahl von Macron und den anstehenden Verhandlungen Frankreich- Deutschland und Neues Europa geführt werden.

Gibt es einen dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus? Märkte jedenfalls sind keine natürliche Ordnungsform und was, ethnologisch betrachtet, die Menschen in ihrer Organisationsform auszeichnet ist Reziprozität, Redistribution und die Fähigkeit, zu haushalten. Guérot zieht Vergleiche mit dem Cyber Space, in dem sich gewisse Prinzipien für junge, in der Entwicklung befindlichen Räume abzeichnen, die mit open source auch gemeinschaftliche, frei zugängliche Programme, Daten, Wissen zur gemeinschaftlichen Nutzung zur Verfügung stellen. Übrigens: Stiftungen werden, meines Erachtens ganz zurecht, an dieser Stelle kritisiert für ihre willkürliche Auslegungsmöglichkeit und Zielrichtung, es fehlt ihnen die gesamtgesellschaftliche Arbitrage, d.h. es fehlt die volonté générale über das, was gefördert werden soll. Deshalb kann man nur über Steuern dem Anspruch „Eigentum verpflichtet“ gerecht werden. Eine europäische Unternehmenssteuer, einheitliche Erbschafts- und Vermögenssteuer sind unabdingbar, ebenso wie eine Regionalisierung der Produktion. Auch wäre, wie Juncker empfiehlt, ein europäisches Recht auf Arbeit mit europäischer Arbeitslosenversicherung ein Schritt zu einer europäischen Republik.

Wie ist es bestellt, um unsere Vorstellung von Besitz und Eigentum, wenn man mit in Rechnung stellt, dass in den nächsten Jahrzehnten vermutlich die Hälfte der Arbeitsplätze wegbrechen werden durch die Entwicklungen von Technik und künstlicher Intelligenz? Das Monster lässt sich nur bändigen, wenn das Produkt aus diesem Fortschritt im Gemeinwohlinteresse verteilt wird. Guérot sieht hier sogar die Möglichkeiten einer europäischen Republik als Avantgarde für eine zukünftige Weltregierung.

Wenn Bankensysteme keine Vorteile mehr gegenüber Banken anderer Nationen haben, können viele finanzmarktverursachte Katastrophen verhindert werden. Die Exportindustrie sorgt für ein hohes Maß an Ungleichheit innerhalb Europas. Deutschland ist viermal so stark in globale Wertschöpfungsprozesse durch Export eingebunden wie Frankreich. Der Preis allerdings ist hoch, der Preis dafür, damit anzufangen, die Welt zu teilen, wäre nicht weniger als das Ende des Überflusses.

Ulrike Guérot spricht von einer smarten, ganz und gar nicht apolitischen europäischen Jugend, die mit den „ganzen männlichen Alphatierchen der europäischen Diskurskoalition über 60“ (S.228) nicht klarkommt. In manchen europäischen Ländern gibt es einen Generationenwechsel – aktuell auch in Frankreich mit Macron – in anderen überhaupt nicht – wie z.B. Deutschland.

„Fernab von Brüssel baut die europäische Jugend ganz entspannt ein anderes Europa und Brüssel bemerkt es nicht einmal. Sie lassen EU- Europa als Potemkinsches Dorf links liegen und machen sich an einen Neubau. Keine hohen Glasbauten, sondern einen flachen, europäischen Bungalow, an den an allen Seiten Zimmer angebaut werden können.“ (S.229)

Längst hat sich die politische europäische Elite vom Gedanken des Gemeinwohls verabschiedet und von der volonté genérale und genau deshalb ist sie so leicht angreifbar von den populistischen Strömungen. Die europäische Jugend, so Guérot, denke gar nicht daran, ihre Energie auf etwas zu verschwenden, was sich anscheinend so schwer reformieren lässt. Sie gestaltet ihr Europa einfach anders (siehe www.europeanway.org). Und: diese Jugend experimentiert mit Demokratie. Der große Abstand zu den Institutionen und ein überkommenes System ohne jeglichen Reiz – das Europa der Zukunft wird vielleicht ganz anders gestaltet werden müssen, als wir uns das vorstellen können. Es gibt z.B. eine Grassroot- Organisation: European Alternatives.

„Wohlinformiertheit“ ist das Stichwort. Vor allem im Bestreben, den extremistischen Entwicklungen entgegenzuwirken, denn nach wie vor gilt, dass Bildungsferne einerseits die statistisch signifikanteste Variable für eine populistische Stimmabgabe ist und andererseits keine zukunftsweisenden Konzepte aufzuweisen hat. Die liberale Mitte Europas ist selbstreferenziell und sich selbst bedienend.

Die „Tiefbohrungen“ der Politikwissenschaftler liegen nach Guérot heute nicht nur im Bereich der Abschaffung der europäischen Nationalstaaten, sondern auch der möglichen Etablierung einer Weltbürgergesellschaft (in der Philosophie seit Diogenes über Kant, in Deutschland konkret diskutiert von u.a. Otfried Höffe, Jürgen Habermas). Habermas plädiert für ein Weltparlament. Das bedeutet allerdings auch in einigen wesentlichen Punkten die Einschränkung der Staatssouveränität und die Anerkennung z.B. des internationalen Strafgerichtshofs.

Andere praktische Überlegungen müssen sich damit befassen, wie Besitz für Weltbürger definiert wird. Es gibt so genannte global commons, das sind die Dinge, die alle zum Überleben brauchen, wie etwas Regenwälder, Polkappen, Ozeane. Dass existentielle Güter für das menschliche Überleben im „Besitz“ von einzelnen Ländern und unter der Verwaltung von nationalen, sich selbst bedienenden Regierungen stehen, ist absolut nicht mehr zeitgemäß und müsste revisioniert werden in Richtung einer Gemeinwohlökonomie eines gemeinsamen Besitzes der Erdenbürger. Auch über das Weltgastrecht bei derzeit 60 Millionen Flüchtlingen, die weltweit unterwegs sind, müsste dringend international neu verhandelt werden.

Nun aber ganz konkret, die Vision für Europa:
Ulrike Guérot zieht zum Vergleich die Geschichte des amerikanischen Nordens heran, wo Little Chinatown, New Hampshire und New Hamburg neben Little Italy ihre Existenz haben. Und sie schlägt vor, in einer europäischen Republik den Flüchtlingen Land zuzuweisen, in Abstand zu unseren Städten, wo sie Neu-Damaskus und Neu-Aleppo aufbauen können mit eigener Infrastruktur. Die Flüchtlingsströme der vergangenen Jahrhunderte zeigen, dass Menschen in jeder neuen Heimat jeweils ihre Städte mit ihrer Kultur aufgebaut haben – übrigens zeigen schon Flüchtlingslager nach kurzer Zeit die Entwicklung von eigenen Infrastrukturen, nach Experten dauert es keine sechs Monate, damit aus einem Flüchtlingscamp eine Stadt wird – das bedeutet den Verzicht auf Integration und „wir respektieren Andersartigkeit und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit für sich alleine.“ (S.251) Aber: „Darüber schwebt für sie wir für uns das gemeinsame rechtliche Dach der Europäischen RePublik.“ (Ebd.)

In sechs Monaten wird aus dem Flüchtlingscamp eine Stadt mit Handel, Handwerk, Tanzfest und nach drei Generationen ist trotzdem die Sprache der neuen Heimat gelernt, einfach weil es praktischer ist und die Liebe ihr übriges dazutut.

Das gleichberechtigte und respektvolle Miteinander ist eine wunderbare Vision, die aber eben nur funktioniert, wenn nicht nur das gleiche Recht im justitiellen Sinne anerkannt wird, sondern auch die Gleichwertigkeit, die diesem vorausgeht. Und genau damit tun sich beide Seiten meines Erachtens am schwersten.

Guérot sagt, Utopien seien ein Kompass für gesellschaftliche Entwicklungen, sie entwickeln Ideen und sollten den politischen Prozess anregen. Diese Anregung erreicht uns nicht in erster Linie auf politischer Ebene, sondern auf der Ebene der Selbstvergewisserung der Bürger: was soll es in Zukunft bedeuten, europäischer Bürger zu sein und an welche philosophischen Implikationen ist dies geknüpft, die ganz zutiefst an ein Bild vom Menschsein gebunden sind?

Ein intelligentes, anregendes Buch, genau 500 Jahre nach Thomas Morus’ „Utopia erschienen im Dietz Verlag, Bonn, 2016

3 Antworten auf „Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! 2.Teil

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  1. Warum sollte man solche Visionen auf Europa beschränken? Ich finde man sollte international mit anderen Demokratien zusammenarbeiten um Strukturen zu schaffen die eine demokratische Repräsentation der Weltbevölkerung ermöglichen. Das einzelne Staaten nationale Souveränität abgeben wäre dann der zweite Schritt. Wichtig ist doch erst einmal, dass so etwas wie eine flexible, internationale, demokratische Organisation ins Leben gerufen wird, die später einmal Aufgaben der internationalen Politik übernehmen kann.

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    1. Guérot entwicklet in diesem Buch eine konkrete Idee für Europa, ein Weltparlament ist hier nicht ihr Thema. Über ein mögliches Weltparlament wird, auch in der Philosophie schon lange – mit fruchtbaren Beiträgen – diskutiert. In der Realität erweist sich aber leider bisher, dass die meisten Gremien, die international und demokratisch versuchen, miteinander zu arbeiten, dazu neigen, sich aus ihrer eigenen Struktur heraus zu blockieren. Ich will beim besten Willen nicht für eine andere als eine demokratische Struktur sprechen! Bei mir persönlich ist der Traum vom Weltparlament gerade in der gegenwärtigen politischen Situation wieder ein Stück weiter in Richtung Vision gerückt. Man stelle sich vor Trump – und auch die europäischen Regierungsvertreter – müssten ihre Wirtschaftspolitik in einem Weltparlament verhandeln! Das würden diese Leute niemals gegen sich selbst installieren. Philosophisch halte ich die Idee und die Auseinandersetzung damit trotzdem für ein wichtiges Regulativ.

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      1. Ich glaube nicht, dass ein Weltparlament so weit von der Realität entfernt ist. Demokratien wie den Ländern Europas muss es doch ein anliegen sein, dass die gesamte Welt demokratischer und stabiler wird. Krisen wie der Syrien-Konflikt, der extrem viele negative Auswirkungen, auch auf Deutschland und die USA hat, könnten sich in Zukunft verhindern lassen, wenn man dafür sorgt, dass die Länder dieser Erde demokratischer werden. Es muss also im Interesse von demokratischen Ländern sein, Strukturen zu schaffen, die die Weltbevölkerung demokratisch vertreten und sich in der internationalen Politik für gemeinsame Interessen einsetzen.
        Natürlich ist es unrealistisch, wenn man verlangt dass Staaten jetzt und auf der Stelle ihre Souveränität an eine solche Organisation abgeben sollen. Aber es sollte so eine Struktur geben, an die in der Zukunft einmal Souveränität abgegeben werden kann, wenn einzelne Nationen dazu bereit sind.

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