Peter Stamm: Weit über das Land

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„Ein Mann steht auf und geht.“
Ein einfacher Minimalsatz, Subjekt, Prädikat, und doch weiß man sofort, dass hier ein ganzes Lebenskonstrukt mit all seinen Attributen in Frage gestellt wird.

Die Kunst des Peter Stamm besteht im ersten Teil darin, den Leser wie einen imaginierten Kameramenschen mitzuführen durch die Geschichte. Wir machen uns mit auf den Weg, wissen nicht wohin – das macht uns neugierig – wissen auch nicht warum. Erst Tage später, als die Frau trotz ihrer Scham und des Verweigerns der Tatsache, dass ihr Mann sie so verlassen hat, sich endlich dazu aufrafft, eine Vermisstenanzeige aufzugeben und nach einem aktuellen Bild sucht, blitzt eine Idee auf: der Mann hat kein Gesicht mehr. Er ist untergegangen in seinem Leben.

Er scheint auch selbst nicht mehr zu wissen, wer er ist und was er eigentlich von diesem Leben wünscht. Aus diesem Grund sind wohl die Reflektionen seiner Person über die Naturbeschreibungen so ausführlich – für meinen Geschmack an mancher Stelle zu ausführlich, an anderer aber so präzise, dass die Natur den Menschen beschreibt:

„Er war gefangen in einem Labyrinth aus Fels, aber die diffuse Angst, die er verspürte, hatte weniger damit zu tun als mit dem Gedanken, dass er an seinem Ziel angekommen war, dass er, selbst wenn er einen Weg fände, nicht weiterwusste.“

Und doch wird die Frau vom Gefühl seiner Gegenwart ständig begleitet. Die Erzählung tritt in eine zweite Phase, nachdem der Verunglückte eindeutig identifiziert wurde und nimmt hier die eigentlich spannende Wendung: sie lebt weiter mit seiner gefühlten Gegenwart und er erlebt eine Zukunft mit vielen neuen Lebensstationen. Ob diese imaginierte Zukunft ihrer Phantasie entspringt oder seiner Nahtoderfahrung als zukunftsgerichteter Vision spielt keine Rolle. Es wird aus beiden Perspektiven erzählt, und der letzte Moment, in dem sie fühlt, wie er 20 Jahre später durch das Gartentor wieder in ihr Leben tritt, ist ein genauso von ihm empfundener Moment, in dem man durch seine Augen ihre Welt anschaut. Und das ist wunderschön gemacht. Der Rest bleibt Phantasie.

 

S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2016
auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016

2 Kommentare zu „Peter Stamm: Weit über das Land

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